Interaktion / Kunst / Labor
Betrachtungen zweier Sympathisanten
Andreas Lenhard, Uschi Schmidt Lehnhard
Auch wenn sein Bekanntheitsgrad hierzulande nicht sehr hoch ist: Das Internationale Interaktionslabor auf dem Gelände der ehemaligen Grube Göttelborn gehört zu den beharrlich überlebenden, überregional wirksamen Kulturereignissen des Saarlandes. Schon seit 2003 lockt der deutsch-amerikanische Choreograph und Hochschullehrer Johannes Birringer in jedem Sommer KünstlerInnen, Techniker und Informatiker aus der halben Welt an, die sich für jeweils zwei Wochen mit der Erforschung des künstlerischen Potentials der neuen interaktiven Medien beschäftigen. Sie experimentieren komponierend, filmend, tanzend, lötend mit neuester Software und Sensoren, grübeln über ihrem Manifest. Zwei Broschüren wurden inzwischen herausgegeben: „Wechselwirkung“(2004) und „Spielsysteme“(2006). Ein Sommerabend im futuristisch kahlen Gästehaus der IKS in Göttelborn. In der durchwärmten Grauen Halle wird es dunkler, das nervöse, barfüßige Gewusel der Künstler, Programmierer, Elektroingenieure ebbt allmählich ab, die wenigen kulturinteressierten Gäste organisieren sich Stühle oder setzen sich auf den Boden, in Richtung auf das Triptychon der großen Projektions-Leinwände, das die Bühne zu markieren scheint.
Dann beginnt die öffentliche Probe für das interaktive Tanzstück
See you in Walhalla. Der Plot ist nicht gerade fein gesponnen, liefert auch
nur eine fadenscheinige narrative Umhüllung: ein User des Spieles Walhalla
stellt sich einen Avatar zusammen, erkundet die Beweglichkeit dieser Figur,
manövriert sie durch eine virtuelle Stadtlandschaft, doch etwas läuft
aus dem Ruder. Der Avatar verselbständigt und verirrt sich, geht daran
zugrunde.
Interesse verdient See you in Walhalla, das zwei Monate später im September 2006 vor Athener Publikum mit Erfolg uraufgeführt wurde, aus einem anderen Grund: als typisches Projekt – oder im Jargon des Labors: als Versuchsanordnung - einer sich neu entwickelnden künstlerischen Gattung, die von Johannes Birringer, dem künstlerischen Leiter und Initiator des Göttelborner Interaktionslabors bevorzugt als Interaktionskunst bezeichnet wird. Sie spielt mit den Möglichkeiten von Webcams, Sensoren, virtuellen Räumen. See you in Walhalla etwa wird erst dadurch vollständig, dass es drei gleichzeitige Spielorte multimedial vereint und dadurch Perspektivenbrechungen erzeugt, die keine der traditionellen Künste hervorgebracht hat. An jenem Göttelborner Probenabend saß der Game-User ganz ohne öffentliche Präsenz im bulgarischen Sofia. Der Avatar bewegte sich vor dem Technikerstab und traditionellem Publikum hier im Saarland. Die performanceartig inszenierte dritte Szene spielte sich vor zufälligen Passanten in der Innenstadt von Amsterdam ab und war nicht als Aufführung gekennzeichnet. Verbunden waren die Spielorte durch gegenseitige Live-Übertragungen via Internet.
Welche Wahrnehmungen des Ereignisses in Sofia und Amsterdam vorherrschten, könnte nur ein dort Beteiligter darstellen. Aus der Göttelborner Teilperspektive, unter der wir selbst die Probe im Juli 2006 verfolgten, imponierte als Faszinosum der sensorengespickte Avatar. Die Darstellerin Ermira Goro trug über den ganzen Körper verteilt Beschleunigungsmesser, wie sie ansonsten beispielsweise in Airbags Verwendung finden. Die Bewegungseindrücke dieser Sensoren wurden drahtlos in ein Computersystem übertragen, das die Video-Projektion auf den Bühnenleinwänden steuerte. In einer der am schönsten programmierten Szenen hörte die Projektion ganz auf, sobald die Tänzerin mit ihrer Bewegung innehielt. Bewegte sie nur die Schultern, so erzeugte sie damit einen langen, bewegten Bildstreifen auf Schulterhöhe, nahm sie die Hüften dazu, wurde der Streifen entsprechend breiter. Schritt sie in einer den ganzen Körper ergreifenden Bewegung voran, so war auch die Projektion der Stadtlandschaft, die sie durchwanderte, vollständig.
Interaktionskunst ist eine Kunstform, der es – darin Dada oder der Konzeptkunst der 70er Jahre ähnlich – weniger um das Monument eines fertigen Werkes geht. Sie akzentuiert die Wechselwirkungen zwischen den Elementen einer künstlich erzeugten Situation. Es handelt sich um eine systemische Kunstform, in der die Schnittstellen zwischen Subsystemen gestaltet werden, damit sie auf eine interessante Weise miteinander interagieren.
Es ist daher nur folgerichtig, dass die Interaktionskunst bisher keine (durch
ihr Genie-Image vermarktbaren) Galionsfiguren hervorgebracht hat. Sie ist dem
Wesen nach prozessorientierte, interdisziplinäre Teamarbeit. Aus einer
weltweit vernetzten Szene bilden sich für einzelne Projekte transitorische
Zirkel, die sich schon nach kurzer Zeit wieder auflösen. Diese flüchtigen
Knotenpunkte intensiven Austauschs sind die Workshops. Sie werden zwar oft unter
klausurartigen Randbedingungen abgehalten, die Interaktion findet aber nicht
nur zwischen den Mitgliedern des Teams statt, sondern auch mit dem umgebenden
räumlich-gesellschaftlichen Umfeld. Deshalb sind für die Workshops
spannende, unfertige, im Wandel begriffene Umgebungen besonders geeignet.
Für Birringer, der auf einer Erkundung während seiner Sommerfrische im heimatlichen Schmelz auf die verlassene Industrie-Architektur der ehemaligen Grube stieß, ist Göttelborn ein solcher Ort. 2003, im ersten Jahr des Interaktionslabors, war die Grube Göttelborn seit drei Jahren geschlossen. Himbeersträucher begannen, die Industrieanlagen zu überwuchern. Das Gelände war abgeschottet, umzäunt, bewacht. Aber es lag auch im Dunstkreis eines ehrgeizigen Konversions-Projektes: die Industriekultur Saar GmbH (IKS) hatte von der saarländischen Landesregierung den Auftrag erhalten, hier mittelfristig eine Perspektive für Niederlassungen von High-Tech-Firmen zu schaffen. Die Kultur sei „Motor und Bindemittel dieses besonderen Strukturwandelprozesses.“ Man wolle „Projekte, die national und international Aufmerksamkeit auf das Saarland lenken“, ansiedeln. Das verdienstvolle Festival Schichtwechsel verlagerte seinen Schwerpunkt von Völkingen nach Göttelborn (und gab dort unvorhergesehenerweise seine Finissage). Und als Neugründung passte auch die Initiative Birringers gut ins Konzept, der die Ruine als inspirierenden Ort für seine avantgardistische Tanzforschung ansah. Mit minimalem Budget organisierte er einen Workshop mit rund zwanzig KünstlerInnen und Technikern aus fünf Kontinenten. Alles in diesem Gründungsjahr war informell und improvisiert, von der wenig koordinierten (aber umso lebendigeren) Vielfalt der Einzelunternehmungen bis zur Verpflegung und der Unterbringung in den Gasthäusern der umgebenden Dörfer.
Im Vordergrund des Interesses standen zwar noch die Besonderheiten der Geisterstadt: das schimmernde Firmament der Metallkörbe in der großen Kaue, die dunkle Einöde der Schlackenhalde, die glattwandige, trichterförmige Betonfalle des Eindickers. Und einzelne Projekte bezogen sich sehr auf die vergangene Nutzung des Geländes. Die Afro-Kanadierin Camille Turner etwa griff eine in der Karibik gebräuchliche Gleichsetzung der Voodoo-Gottheit Shangoo mit der Schutzheiligen Barbara auf und verführte einen Quierschieder Männerchor, sich an einem mystischen Ritual in der nächtlich-düsteren Verlesehalle zu beteiligen – nicht ganz zur Zufriedenheit der Sänger, die vorausgesetzt hatten, auf einer hellen Bühne aufzutreten. Aber schon damals vertrat die Mehrzahl der KünstlerInnen eine explizit anti-nostalgische Position. „Wenn wir in diesen Gebäuden (…) ehrlich sein wollen, dann müssen wir etwas tun, was zu unserer Zeit passt“, erklärte Koala Yip, Tänzerin und Technologin aus Hongkong. „Ich finde, wenn wir hier nicht ständig an Bergbau denken, dann ist das genau richtig.“
Das wurde beispielsweise im Folgejahr deutlich, als Marion Tränkle
(Amsterdam) und Jim Ruxton (Toronto) in einem ehemaligen Transformatorenhäuschen
halbernst das interaktive Future House simulierten. Nach der Vision der Konstrukteure
wird es seine Bewohner aus eigener Aktivität heraus erkennen und sensorengesteuert
auf ihre Bedürfnisse reagieren.
Das dritte Interaktionslabor fand dann schon nicht mehr in vergammelnden Hallen,
sondern im Rohbau des gerade errichteten Gästehauses der IKS statt. Die
Abwendung vom alten Areal, das fast nur noch als Gelegenheits-Kulisse für
Videoaufnahmen genutzt wurde, und die Konzentration auf die Möglichkeiten
der neuen Grauen Halle mit ihrer naturfernen Strenge, ihrem warmen, federnden
Kunststoffboden veränderten den Charakter des Interaktionslabors. Es wurde
asketischer. Die Teilnehmer verließen das Gelände nun nicht einmal
mehr für ihre Übernachtungen, sie schliefen (die Möbel fehlten
noch) spartanisch auf Feldbetten. Poetische Anmutungen waren ausgesperrt, die
Halle ist ein Platz, an dem man ausschließlich arbeiten kann. 2006 wurde
die Graue Halle zum Proberaum für See you in Walhalla, die Umsetzung einer
Idee von Ash Bulayev und Tzeni Argyriou aus dem Interaktionslabor 2004, die
dem Workshop erstmals EU-Fördermittel bescherte. 2007 schließlich
wurde zu dem Jahr, in dem man das Labor unter Finanzierungs-Gesichtspunkten
eigentlich hätte absagen müssen. Es fand dennoch statt, ganz ohne
Etat für Öffentlichkeitsarbeit oder große Sprünge, und
entwickelte in bescheidenem Rahmen zwei Ideen weiter: Zum einen wurde mit Möglichkeiten
gespielt, Sensoren unauffällig in Kleidung einzunähen, um so die Bewegungsfreiheit
der Protagonisten insbesondere während interaktiver Tänze zu erhöhen.
Zum anderen entwickelte ein kleines Team den technischen und konzeptuellen Aspekt des Projektes DAEDALUS_ex machina weiter. Dieses Spielsystem bezieht sich offenbar auf Daedalus als den Architekten des Labyrinthes von Knossos. Im Verlauf des Workshops erzeugten die beiden KünstlerInnen Walter Langelaar (Niederlande) und Nancy Mauro-Flude (Australien) ein virtuelles und leicht stilisiertes 3D-Abbild der Grauen Halle, das man - wie bei vielen PC-Spielen oder Internet-Spaziergängen - ferngesteuert erkunden konnte. Am Abend der öffentlichen Probe wurde diese virtuelle Graue Halle auf die rechte Hälfte einer Wand der realen Grauen Halle projiziert. Diese Projektion wurde mit Webcam gefilmt, ins Internet gestellt und außerdem auf die linke Hälfte der Wand projiziert, allerdings mit einer zeitlichen Verzögerung von mehreren Sekunden. Das Spielsystem wurde in Betrieb genommen, indem Walter Langelaar sich durch den virtuellen Raum zoomte und Nancy Mauro-Flude sich gelegentlich im Blickfeld der Web-Cam aufhielt, dabei auch ihren Schatten auf die Wand warf. Rechts also auf die Projektion des bewegten virtuellen Raumes, der gerade gefilmt wurde. Links (in einer vielfach vetrackteren Brechung) auf die Projektion des Kamerabildes der Projektion des bewegten virtuellen Raumes auf einer Wand desselben realen Raumes, vor dessen Hintergrund sich zeitweise, aber zeitversetzt, die Frau und ihr Schatten bewegten, die gerade mit ihrem Schatten die Projektion verdeckte. Ein Labyrinth aus Raum-Zeit-Ebenen, dessen Komplexität sich in der Zukunft noch wird potenzieren lassen, sobald sich nicht mehr vor außenstehendem Publikum eine Performance-Künstlerin in das System einspeisen wird. Der Betrachter selbst könnte sich zwischen Wand und Kamera aufhalten, er würde vom wahrnehmenden Zuschauer zu einem wahrnehmbaren Element im virtuellen Raum. Oder, um noch einen Schritt weiter zu gehen: der Betrachter könnte sich selbst – um einige Sekunden zeitversetzt - beobachten, wie er, zwischen Wand und Kamera im realen Raum stehend, über in seine Jacke eingenähte Bewegungssensoren den gleichartigen virtuellen Raum erkundet; nur gestört durch den Schatten, den er gerade auf die Projektion wirft ?
DAEDALUS in dieser radikalisierten Form hätte keinerlei Handlung, es würde auf keine Geschichte mehr anspielen, es enthielte weder Musik noch tänzerische Choreographie. All diese Anleihen bei den etablierten Kunstsparten würden als wesensfremd entfallen. Oder man würde sich bei ihrer Verwendung bewusst sein, dass es sich um Reminiszenzen handelt.
Zur Zeit, so ist unsere Einschätzung, ringen die InteraktionskünstlerInnen
noch um die dem Medium adäquaten Stoffe und Ausdrucksformen. Bei unseren
Bemühungen, das Geschehen im Labor aus der Position von parteilichen Chronisten
zu verstehen, kommen uns oft Vergleiche mit der Frühzeit des Films in den
Sinn; wir erinnern uns an die formalen Selbstverständlichkeiten, mit denen
die ersten Filmschaffenden Tableaus mit Bewegung erzeugten oder das Geschehen
auf einer Theaterbühne nachahmten. Die Technik des Filmens funktionierte
bereits, aber selbst seine passioniertesten Anhänger waren sich noch ganz
im Unklaren über die einzigartigen, nur diesem neuen Medium innewohnenden
Möglichkeiten der Bedeutungsgebung durch dynamische Kameraführung,
Schnitt, Montage oder visuelle Animation.
Die zunächst doch ziemlich gesucht wirkende Terminologie des Interaktionslabors
lässt wohl darauf schließen, dass auch die Hauptakteure diese Ansicht
teilen. Als Gast sollte man dort auch im nächsten Sommer weder eine Ausstellung
noch Aufführungen im engeren Sinne erwarten, sondern man kann sich darauf
einstellen, die Workshops des Labors mitzuerleben, sich während halböffentlicher
Interfaces von Versuchsanordnungen irritieren zu lassen. Wer mag, wird sich
sicherlich an konzeptuellen Diskussionen beteiligen können. Denn hier eröffnet
sich derjenige Aspekt der Interaktivität, der zentral ist, um der Interaktionskunst
eine gesellschaftliche Relevanz zu verleihen: Neben abgeschiedener Forschung
muss das Labor auch weiter die Schnittstelle mit Ideengebern von Außen
pflegen, damit Interaktionskunst sich nicht aller Vernetztheit zum Trotz in
eine paradoxe Abkapselung hineinentwickelt.
Fotos:
- Johannes Birringer vor dem Gästehaus der IKS; Foto: Klaus Behringer
- Szenenfoto „See you in Walhalla“ (2006); Foto: David Lemm
- Koala Yip auf dem Eindicker (2003); Foto: Johannes Birringer
published in Saarbrücker Hefte, 9, 47-50. (c) 2007. Published online with permission of the authors.