Andreas Lenhard
I
„Halbinseln der Wahrnehmung“ ist so etwas wie das Motto des diesjährigen
Interaktionslabors. Der Ausdruck bezieht sich auf ein Hörfunkfeature über
Autismus-Therapie, das meine Frau Uschi Schmidt-Lenhard und ich vor einigen
Jahren unter dem Titel „Alle Menschen sind Halbinseln“ erstellt
haben. Und dieser Titel wiederum wandelt einen Aphorismus des Schriftstellers
Arnfrid Astel ab, den ich wie folgt erinnere (ohne ihn wortwörtlich nachschlagen
zu können):
„Alle Inseln sind Halbinseln – von unten.“
Autismus ist etwas anderes, je nachdem, wer darüber spricht. So lautete
unsere These, und wir montierten Auszüge aus einem diagnostischen Manual,
ein Interview, das ich aus meiner damaligen Perspektive als Autismustherapeut
gegeben hatte, eine frühe poetische Schilderung u.a.m. Als faszinierendste
Quelle aber konnten wir das authentische Manuskript einer autistischen Frau,
Phoebe, verwenden.
„Alle Inseln sind Halbinseln“ akzentuiert für uns, dass autistische
Menschen zwar einerseits wegen ihres fremdartigen Verhaltensstiles und ihrer
abweichenden Kommunikationsweise sehr abgeschieden, schwer erreichbar, abgetrennt
vom großen Block der Festlandsmasse wirken.
Gleichzeitig ist aber richtig, dass sie unter der trennenden Wassermasse sehr
wohl fest mit uns verbunden sind. Sie sind – natürlich – in
vieler Hinsicht wie wir. Autistisch, aber ansonsten ganz normal.
Außenstehende Beschreibungen des sichtbaren Verhaltens betonen die Unterschiede
im Sinne einer schier unüberwindlichen „Barriere“. Sie versuchen,
Autismus als eine klar abgrenzbare Einheit zu bestimmen. Und auch der Anfang
des Manuskriptes von Phoebe – hier im Workshop: Sybille – stellt
die Autisten den Du-Norm-Menschen gegenüber. Doch im Verlauf des Austausches
zwischen Sybille und ihrem Therapeuten entwickelt sich eine andere Sichtweise:
Akzeptanz für das Beachten sowohl von Fremdheit als auch von Vertrautheit
entsteht; wir bezeichnen das in Anlehnung an eine Begrifflichkeit aus der Forschung
über Kulturkontakt als „Difference“.
II
„Autismus“ als Bezeichnung für eine von mehreren „tiefgreifenden
Entwicklungs-störungen“ ist letztlich das Ergebnis einer sozialen
Konstruktion. Denn Autismus hat kein klares physisches Korrelat; bis heute ist
Autismus nicht sinnvoll als Ergebnis einer medizinisch-körperlichen Untersuchung
zu diagnostizieren. Kein Blutbild, keine Genanalyse, keines der modernen bildgebenden
Verfahren aus der Hirnforschung kann zuverlässig Aufschluss darüber
geben, ob das analysierte Blut, der zergliederte Zellkern, das fotografierte
Gehirn zu einem autistischen Menschen gehören.
Vielmehr erfolgt die Diagnose durch die Kombination der Ergebnisse, die zuvor
aus der unabhängigen Anwendung zweier teilstrukturierter Verfahren gewonnen
wurden: einer teilnehmenden Beobachtung (z.B. mit einem der Module von ADOS-G)
und einem anamnestischen Interview mit engen Bezugspersonen (z.B. ADI-R). Weist
ein untersuchter Mensch in diesem Untersuchungs-Zusammenhang aktuell hinreichend
viele der operationalisierten Verhaltensmerkmale auf, und stimmt dies mit den
Erinnerungen und Beobachtungen der Bezugspersonen (Eltern, langjährige
Erzieher…) überein, so wird die Diagnose „Autismus“ gestellt.
Doch schon die Auswahl der für die Diagnose relevanten Verhaltensmerkmale
erfolgt als Konsens-Entscheidung in Experten-Gremien, die den Stand der Forschung
zum Autismus auswerten. Veröffentlicht werden die Übereinkünfte
in den jeweils gültigen Fassungen der großen medizinischen Diagnose-Systeme:
DSM (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders der American Psychiatric
Association APA) und ICD (International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation
WHO).
Diese Schriften werden in englischer Sprache verfasst und später in verschiedene
wichtige Sprachen übersetzt. Im Vorwort der deutschen Ausgabe von 1993
erklären die Herausgeber selbst, sie stimmten „nicht in allen Einzelheiten
mit dem neuen Klassifikationssystem überein. Es bildet einen Kompromiss,
[…] der zwar kontrovers diskutiert wurde, aber auch im deutschen Sprachraum
voll zu übernehmen ist.“
Die Bedeutung eines diagnostischen Begriffes kann sich auf diese Weise im Verlauf
der Zeit verändern; die Abgrenzungen der Diagnosen wandeln sich. Und auch
der Zeitgeist (die gesamtgesellschaftliche Meinung darüber, was als „gestört“
zu betrachten ist; Bsp: sexuelle Vorlieben) fließt unwillkürlich
ein.
III
Zur Zeit gilt die 10. Version der ICD, also die ICD-10. In ihr werden mehrere
Varianten des Autismus beschrieben. Die ursprüngliche Kernform, der frühkindliche
Autismus (Kanner-Autismus; ICD-10-Codierung F84.0) ist über die gleichzeitige
Erfüllung von drei Kriterien definiert, deren mittleres wiederum dreifaltig
ist.
Für die Belange unseres Workshops leicht zusammengefasst wird „frühkindlicher
Autismus“ einem Menschen dann als Diagnose zugeordnet, wenn sein auffälliges
Verhalten sämtliche der folgenden Bedingungen erfüllt:Kriterium A:
Beginn vor dem 3. Lebensjahr Kriterium B: Qualitative Abweichungen in jedem
der folgenden 3 Bereiche
- sozial-kommunikativer Sprachgebrauch
- reziproke soziale Interaktion und
- begrenzte Interessen, repetitive Verhaltensmuster
Kriterium C: keine Möglichkeit, den Zustand durch eine andere Störung
zu erklären Die recht abstrakten Gesichtspunkte des Kriterium B können
an einigen Beispielen plastisch gemacht werden:
- Vermeiden von Blickkontakt
- Vermeiden von Körperkontakt (v.a. wenn er nicht selbst initiiert ist)
- Vorliebe für die Beobachtung von Drehbewegungen
- Ungewöhnlicher Gebrauch von Objekten (z.B. werden die Phantasie anregende
Spielzeuge nicht für Rollenspiele verwendet, sondern nach der Farbe sortiert,
in geraden Reihen aufgestellt …)
- Zeigen durch Hinführen (nicht durch Hinweisen mit dem Finger)
- Abweichende Sprachmelodie, Echolalie, Fehlen der Pronomenumkehr
- Lachen/Kichern in „unangemessenen“ Situationen
- Geistige Fixierung auf wenige Spezialthemen
- Große Bedeutung von Ritualisierungen, der Beibehaltung von zeitlichen
Abfolgen, räumlichen Anordnungen.
Noch einmal: Keiner der „Autist“ genannten Menschen wird alle Eigenheiten
dieser Liste zeigen. Aber um die Diagnose „F84.0“ zu erhalten, müssen
alle drei Kriterien der ICD-10-Definition erfüllt sein.
IV
Einige - aber sicherlich nur die wenigsten - Menschen, über die wir Diagnostiker
irgendwann beschlossen haben, dass wir sie „Autisten“ nennen sollten,
gelangen später in ihrem Leben dahin, offen über ihre Erfahrungen
zu sprechen oder zu schreiben; nicht zuletzt auch durch die spezifische und
jahrelange Förderung, die ihnen zuteil werden kann, sobald die Diagnose
erst einmal gestellt ist. Phoebe / Sybille ist einer dieser trotz aller Einschränkungen
ungewöhnlich motivierten und befähigten Menschen. Sie möchte,
dass mit ihrem Manuskript gearbeitet wird. Wie wir es in diesem Workshop tun.
Macht man sich klar, auf welchem Wege die Diagnose zustande kommt, so erscheint
es als unwahrscheinlich, dass Sybilles Manuskript die Innensicht aller Autisten
widerspiegeln könnte. Aber die Idee liegt nahe, dass fehlende Repräsentativität
ein gemeinsames Merkmal jedes einzelnen „Autisten“ ist. Und jedenfalls
liefert der Text einen authentischer Beleg dafür, dass es ein grober Fehler
ist, vom Augenschein eines reduzierten Verhaltens auf eine reduzierte Innenwelt
zu schließen.
Sybilles Erleben ist reich. Ihre Wahrnehmung unterscheidet sich von der durchschnittlichen
in einer Weise, die es ihr außerordentlich schwer macht, im entspannten
Kontakt mit anderen Menschen zusammen zu sein. Viele alltägliche Handlungen
werden ihr an manchen Tagen zu großen Strapazen. Trotzdem sucht und findet
Sybille Wege, gut zu leben. Und sie weiß ihre individuelle Art der Wahrnehmung
zu genießen. Das ist ihre Stärke und ihre Gesundheit.
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Texte und Kommentare zum Labor 2009 werden hier veröffentlicht
Texts and commentaries on the 2009 lab and related research subjects will be published here.