CRITICAL WRITINGS / KRITISCHE TEXTE

 

no.0

Wahrnehmung und Kommunikationssysteme

Interaktionslabor 2009

5.3.09 Katharina Bihler, Stefan Scheib, Andreas und Uschi Schmidt-Lenhard

 

Überlegungen zur Konkretisation des Themas auf der Grundlage von Sybilles „Auf der anderen Seite des Spiegels“
- Autismus
- Sozialer Autismus
- Interaktionslabor
- Wahrnehmung:


Man kann Wahrnehmung, Wahrnehmungsstörungen erfahrbar machen durch den Einsatz von Sensoren und ihre Verknüpfung mit den Medien, wie es in den vergangenen Labors geforscht wurde. Darin besteht die Chance, die je eigene, spezifische Wahrnehmung von Welt für andere erfahrbar zu machen.


Aus sprachskeptischen, sprachphilosophischen Überlegungen wissen wir, dass die Sprache allein zur Kommunikation nicht taugt, und dass sie, für sich allein genommen, den Erkenntnisvorgang stört. Wunderbare Beispiele findet R.S. (Sybille)

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„Die Worte der Sprache sind wenig geeignet zur Mitteilung, weil Worte Erinnerungen sind und niemals zwei Menschen die gleichen Erinnerungen haben. … Die Worte der Sprache sind wenig geeignet zur Erkenntnis, weil jedes einzelne Wort umschwebt ist von den Nebentönen seiner Geschichte. Die Worte der Sprache sind endlich ungeeignet zum Eindringen in das Wesen der Wirklichkeit (oder in das Wesen der verstehenden Kommunikation unter Menschen, usl) … (Fritz Mauthner, Sprachphilosoph: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. München 1923, Bd. 3. S.641)


Es gilt die Feststellung, dass man allein sprachlich sich nicht hinreichend verständigen kann. Das Interaktionslabor ist in der Lage, die Wahrnehmung des Zuschauers zu irritieren. Neue Regeln werden aufgestellt. Es entstehen neue Kommunikationssysteme: technisch, und/oder semantisch. Man vergleiche die Kommunikationskomplikation zwischen Katze und Hund. Beide verfügen über die gleichen „technischen“ Wahrnehmungsfähigkeiten, Sinnesorgane, missverstehen einander aber, weil das Schwanzwedeln des Hundes semantisch beinah das Gegenteil als das Schwanzwedeln bei der Katze bedeutet. Andreas erzählte von dem Feldversuch mit den Zimmern, deren Boden sich kippen ließ. Es ging um die Frage, wer sich anhand welcher Linien orientiert, wer sich wie von Außenreizen steuern läßt. (vgl. Möglichkeit für das Labor).


Manche Autisten beispielsweise können keine Schrägen erkennen.
- Welche Art von Wahrnehmung nutze ich? Welche Parameter?
die Zeit (Tageszeit, Uhrzeit)
Körpergefühl (Hunger)
Welche Sinne für die Außenwelt nutze ich?


Katharina erzählt von der beeindruckenden Stelle, in der Sybille erzählt, wie sie Bilder betrachtet. Sybille begibt sich in ihrer Phantasie in Bilder hinein, verweilt. Spürt Kitzeln unter ihren Füßen, wenn sie sich auf die Betrachtung des im Bild gemalten Grases konzentriert. Es entsteht eine Brechung von Raum und Zeit.
Sybille wird, wenn sie derart lange vor einem Bild verweilt und Töne von sich gibt, von anderen Menschen beobachtet und interpretiert. (Derjenige, der Sybille betrachtet, kann Sybille Verhalten aber nur innerhalb der eigenen Denk-Grenzen interpretieren…)
Vom Beobachter des Beobachters der Beobachter. (Dürrenmatt-Titel).


Uschi erzählt von den Experimenten mit der Kontrast Montage: Seit den russischen Formalisten gibt es das Experiment mit dem Filmbild eines lächelnden Mannes, das mit drei verschieden Bildern kontrastierend verbunden wird. Auf einem Bild sieht man ein kleines Kind: der Gesichtsausdruck des Mannes wird als der eines liebenden Vaters gedeutet; Das nächste Bild zeigt einen Teller mit Essen: der (unveränderte!) Gesichtsausdruck wird als hungrig gedeutet; Das dritte Bild zeigt eine schlafende Frau: jetzt gilt der Gesichtsausdruck als lüstern. Stefan erzählt von den Beobachtungen einer ihrer (typischen!) Performances: Katharina und er hatten sich unbemerkt unter die Besucher gemischt und deren Reaktionen auf die Darstellung beobachtet. Die Menschen wollten immer wissen, wie es gemacht sei. Wollten „Stimulus“ und „Response“ ergründen, wollten wissen, in welchem Kausalzusammenhang die verschiedenen Phänomene stehen. Was bewirkt was?


Die Phänomene aber wurden ohne inneren Kausalzusammenhang ausgelöst. Oft sei es so gewesen, erzählte Stefan, dass die Männer den gläubig staunenden Frauen irgendwelche (technischen) Zusammenhänge nicht als Vermutung, sondern als Fakten erklärt hätten. Und die Frauen haben es geglaubt. - Nein, die Frauen hat es eigentlich gar nicht interessiert wie oder weshalb es funktioniert. Ob sie es geglaubt haben oder nicht, wissen wir nicht. Andreas ergänzte diese Beobachtung mit einem sozialpsychologischen Experiment, indem Studenten Gesetzmäßigkeiten erkennen mussten. Sie waren in zwei Gruppen geteilt worden. Die eine Gruppe erhielt sinnvolle Rückmeldungen, die andere erhielt die Suche der ersten Gruppe als Rückmeldung. Und versuchte daraus eine sinnvolle Kausalität zu konstruieren.


- Ausbildung von Lernsystemen
DAS LABOR die Erkenntnis, dass wir kaum in der Lage sind, die Wahrnehmungswelt der Mitmenschen adäquat zu teilen, die Irritation der eigenen Wahrnehmung erkunden. Wie nimmt man wahr als Autist? Als Frau, als Mann, als Kind? Als je unterschiedlicher Mensch? Wie filtern wir Wahrnehmung? Auf welche Stimulus-Response-Lernsysteme greifen wir, obwohl sie nicht adäquat abbilden, zurück?
Das war jetzt meine Zusammenfassung unseres gemeinsamen Nachdenkens. Doch das ist nur eine von vier verschiedenen, nicht wahr ;-)


In der Zeit vom 12. Juli bis 15. August haben Katharina und Stefan Zeit und Lust auch im Labor mitzuarbeiten.
Als Auftakt könnte Liquid Penguin „Gras wachsen hören“ – in einer 20-minütigen Fassung - aufführen. Um uns den Gästen vorzustellen und in das Thema des diesjährigen Labors einzuführen.

 

Katharina Bihler: Ergänzungen

Der Text von Sybille hat zum Nachdenken über Interaktion, Kommunikation, Verständigung und Verständnis angeregt, und ist dadurch unvermutet zu einem potentiellen Inhalt für technische und künstlerische Forschung und Umsetzung im Interaktions(sic!)-Labor geworden.


Es geht nicht darum, den Text als solchen umzusetzen, oder sich mit der Person Sybille auseinanderzusetzen, sondern allgemeinere Fragestellungen künstlerisch und technisch zu bearbeiten, die sich aus diesem Text ergeben: Keine Verständigung ist wirklich unmittelbar, jede Verständigung oder Interaktion braucht ein Medium, womit sich der Kommunizierende bemerkbar macht, das kann sein:


- Sprache, Schrift
- Kontaktstab, Tarotkarten oder Horoskope (Rebecca)
- Aktion, Körperausdruck, Tanz
- Klang, Geräusch, Musik
- …
Kommunikation/Interaktion ist eine Übersetzung mit dem Ziel, dass der andere versteht, was ich meine; oder umgekehrt: mit dem Ziel, dass ich verstehe, was der andere meint, es also in meine „Sprache“ rückübersetze Je nach Art des Mediums, das zur Kommunikation gewählt wird, kann ein anderer Teil einer Botschaft kommuniziert werden; Sprache transportiert unter Umständen anderes und auf andere Weise als ein Kontaktstab, eine Geste, ein Lied etc. Auf den Wegen der Verständigung, weil sie unvollkommen und nicht direkt ist und jeweils nur einen Kanal/Medium benutzt, gibt es viel Raum für Missverständnisse.


Und dieses Letzte ist für mich das Interessante: Dass es trotz der Missverständnisse, die permanent da sind, trotzdem so leidlich alles klappt auf der Welt - Lernt also das Verständnis-System vielleicht permanent aus seinen Fehlern und wird eigentlich gerade damit überhaupt funktionstüchtig und dynamisch gehalten? Und wo ist der Grad des Missverständnisses, wo Kommunikation kollabiert?


In der Interaktion mit Autisten, kommen wir als Normalos offensichtlich schnell an unsere Grenzen, wie flexibel ist also unser System?
Stichwort Perspektivübernahme: Was kann uns die Welt eines Autisten vermitteln? Mit welchen „Augen“ sieht er die Welt? Und welche, mit seinen Wahrnehmungsvoraussetzungen ganz logischen Schlüsse zieht er dann? (Da hatte Andreas ein schönes Beispiel: Kann man mit keinem Kanal des eigenen Wahrnehmungsapparates Schrägen erkennen, dann ist es äußerst verunsichernd, wenn einem an einem Berg plötzlich Dinge entgegenrollen, die eigentlich nur daliegen dürften; man hat keine Erklärung dafür). Kann es z.B. eine Simulation dafür geben? Ungewohnte, falsche Feedbacks auf die eigenen Bewegungen zum Beispiel?


Ich habe die vage Vermutung, dass Technikforscher, die für das Interaktionslabor angesprochen werden, mit diesen Begriffen eigentlich etwas anfangen können müssten: sie sind doch nach meinem laienhaften Verständnis damit beschäftigt, Dinge zu übersetzen, oder? Bewegung durch Sensoren in Bild oder Farbe oder Ton etwa? Oder in andere Bewegung, Bewegung anderer virtueller Körper? Aber es ist so, dass ich das nicht wirklich weiß. Und aus diesem Grunde schlage ich noch etwas anderes vor:


Ich habe keine Ahnung, was mich im Interaktionslabor erwartet, was da geforscht wird, wer woran arbeitet, wen was umtreibt, ob Ziele da sind oder Prozesse. Unsere eigene Arbeit GRAS WACHSEN HÖREN als Installation scheint mir eher eine sehr einfache Form der Umsetzung künstlerischen Inhalts mit technischen Mitteln zu sein, weil die Technik hier quasi auch schon Teil des Inhalts ist. Ansonsten haben wir bislang keine Projekte verfolgt, in welchen wir mit Technikern, wie sie vielleicht zum Interaktionslabor kommen werden, gearbeitet hätten.
Ich fühle mich also insofern als neugierige Outsiderin, die neu dazukommt. Und vielleicht ist es gut, von dieser Position auszugehen. Denn, was immer Teil meiner Arbeit ist, das ist zu verstehen (da ist es schon wieder) und dann (zum Teil frech) zu interpretieren, was Menschen machen, und dann von ihnen zu erzählen. Auch da also das Eindringen in eine fremde Welt (vielleicht kommt mir die Welt der Techniker ja sehr „autistisch“ vor, das ist ja sogar so ein Vorurteil… ;-)) und der Versuch, ihre Wahrnehmung nachzuvollziehen und sie mit meinen eigenen Mitteln (der Sprache, der Geräusche, der Klänge) – wie ungeeignet sie auch immer sein mögen (von einem absoluten Standpunkt aus) – zu interpretieren und Behauptungen über sie aufzustellen.


Ich würde also andere beobachten. Interviewen. Aufnehmen. Fragen stellen. Ihre Arbeitsweise in Erfahrung bringen. Ihr System verstehen wollen. Und mir daraus etwas ableiten, das ich mit meinem System interpretiere, komponiere, montiere, aufführe oder (das wäre natürlich fast utopisch) in das System der Beobachteten wieder einführe. Ich wäre dann etwa diejenige, die Sybille vor einem Bild stehend betrachtet und Mutmaßungen darüber anstellt, warum sie kichert. Und dann würde ich überlegen, was derjenige denkt, der mich beobachtet, wie ich vor der kichernden Sybille stehe und grüble und die Stirn in skeptische Falten lege und mir Notizen mache

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Texte und Kommentare zum Labor 2009 werden hier veröffentlicht

Texts and commentaries on the 2009 lab and related research subjects will be published here.