INTAKT-THEORY
Fliessende
Poesie
Zeit-Landschaft im Internet
Götz
Rogge

Der Faktor
Zeit gehört zu den am stärksten manipulierten Elementen unseres Lebens. Es gibt
kaum noch Inhalte unserer Existenz die nicht entweder beschleunigt oder konserviert
sind. Kein Bedürfnis oder Wunsch den wir nicht durch Abruf aus der Vorfertigung
erfüllen, keine Distanz die wir nicht verkürzen und kein Zufall den wir nicht
vermeiden. Zumeist haben wir uns (glücklicher Weise) daran gewöhnt, so dass
uns diese Umstände nicht einmal mehr subtil berühren. Was dabei erlahmt ist
unsere Sensorik, unser Sinn für Re€exion, Berührung oder Gerüche; die Fähigkeit
uns als einen Teil der Natur zu emp€nden oder die Neugier nach dem Unverstandenen.
Ab und zu spielen Strömungen in der Kunst oder der spirituellen Welt mit diesem
Zeitfaktor und stellen uns mit Geduld auf die Probe. Das Mass der Dinge, früher
die Grösse des menschlichen Körpers, hat sich verlagert auf die Länge eines
Pop-Songs: zirka 2,5 Minuten - oder 150 Sekunden.
Es geht
nicht darum die Zeit zurückzudrehen, Er€ndungen zu negieren und sich vom modernen
Leben abzuwenden, es geht darum die Zeit als einen erfahrbaren Bereich in der
Moderne und in der Natur, als poetisch künstlerischen Ausdruck zurückzuerobern.
Dabei kann die Wiederentdeckung von Echt-Zeit im Kontrast zur allgegenwärtigen
Beschleunigung verblüffende Effekte erzeugen, man muss sich nur einmal darauf
einlassen. Die Erfahrung von Zeit ist dabei sehr subjektiv 150 Sekunden können
sehr lang sein. Während Workshops von Musikern in italienischen Schulen habe
ich gesehen wie schwer es Jugendlichen fällt -die sogar in der herrlichsten
Natur leben- einfach die Augen zu schliessen und nur zu hören. Nach etwa 10
Sekunden beginnt ein lustiges Blinzeln und Gekicher, der seltsam anmutende Klang
des eigenen Atmens und die Unvorstellbarkeit, dass keiner guckt ! Es bleibt
dabei sie schaffen es nicht; aber der Versuch macht Spass.
Prädestiniert
für Echt-Zeit Erfahrungen sind neue Medien wie das Fernsehen und der Hörfunk.
Leider beschränken sich diese auf Live-Übertragungen im Sport oder der Unterhaltung,
wonach dann immer jammernd-pralerisch von der ³Zeitüberziehung² gesprochen wird;
der Sendeschluss als Zeitfenster ist ja leider ausgestorben (die Einschaltquote
zählt).
Das Internet
mit seinen Web-Cams, Direktübertragung ohne ästhetischen Anspruch, kommt einer
fliessenden Jetzt-Erfahrung schon näher, allein der poetische Funke springt
nicht über. Wir mir scheint bedarf es hierfür nur einer kleinen Anstrengung,
oder eines veränderten Blickwinkels.
Meine erste
Begegnung mit einer Form von Streaming Poetry/Fliessende Poesie pulsierte im
Wehr eines Berliner Kanals, gleich hinter dem heutigen Aussenministerium am
Alexanderplatz. Dort trafen sich 5 Bälle. Sie waren allesamt stromaufwärts in
die Spree gefallen wo, wussten nur sie und ein paar betrübter Kinderaugen.
In dem Wehr aus Druck und Sog hatten sie sich versammelt, liessen sich vom Gefälle
untertauchen, sprangen hoch und gegeneinander und schwammen in Gesellschaft
von kleinen Einweg€aschen wieder zurück zum Versammlungsort. Diese Bälle hörten
niemals auf zu spielen, und man konnte förmlich ihr Gekicher hören, wenn der
Strom nicht so laut gewesen wäre. Sie waren die Verkörperung der blanken Freude,
zeitlich angehalten/gefangen (für Grossstädte unvorstellbar) in einem Wirbel,
während gleichzeitig das Wasser jede Sekunde mit seiner Masse abklopfte. In
der stillen Wüste hinter dem Anti-Atlas und dem lauten Leben des Jemaael Fna
in Marrakesch habe ich erfahren, dass jede Ansicht diese Poesie in sich trägt;
es bedarf keiner reisserischen Motive oder schneller Schnitte, und keiner Dramaturgie
im Gegenteil. Es bedarf lediglich des richtigen Rahmens / Rhytmus und einem
ungebremsten Zeit€uss. "Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem
Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit."
Streaming
Poetry
Konzept
für die Übertragung eines poetischen Flusses aus Bild, Ton + Text im Internet
Poesie entsteht
durch Assoziation. Hierzu werden drei parallele Ströme im Internet installiert:
1
Tonstrom; gesammelte Details der Waldakustik: Wasser, Wind, Laub, Schnee,
Tierstimmen, menschliche Aktivitäten, Tag, Nacht, Vollmond, etz.
2
Bildstrom; eine Ansammlung aus stehenden Impressionen
in Video (und Foto). Dies sind vor allem Waldsituationen in unterschiedlichen
Dimensionen, d.h. Bilder und Details aus diesen Bildern (Bild im Bild) um die
manigfachen Grössenverhältnisse des Waldes, der Kreaturen und deren zeitliche
Parallelität zu beschreiben. Wichtig:
dies ist kein Film!! keine Schwenks und Zooms, keine Montage, und nichts was
irgendwie animiert oder beschleunigt. Übergänge bestehen aus langen Überblendungen
(~150 sek.). Auch kulturelle Situationen können hier ein€iessen(kein falsches
Idyll), allerdings immer im gleichen Rahmen.
3
Textstrom; hier kommt geschriebenes Wort zur Anwendung;
in Zusammenhängen aber auch als Fragmentierung einzelner Wörter, in Aneinanderreihung
und sukzessiver Ergänzung.
Thematische
Texte ohne Copyright-Bindung, siehe http://gutenberg.spiegel.de , oder allgemeine
Zusteuerung: Schriftsteller, Mitarbeiter, Zuschriften, Internet, etz. Besonders
die knappe, offen naturalistische Form japanischer Dreizeiler "Haiku"
spiegelt das Konzept von Streaming Poetry gut wieder.
Auch Transformationen,
Text zu Ton = Entropie, sind vorstellbar (siehe Götz Rogge, "Fraktale",
Berlin)
Jeder dieser
Ströme bezeichnet einen geschlossenen Kreislauf (Loop).
Sie lassen
sich nicht starten oder stoppen, man kann sich nur zu- oder wegschalten; der
³Internet-Stream² ist wie bei einer Rundfunkübertragung permanet. Diese Loops
sind unterschiedlich lang und bestehen aus Sammlungen, die ständig erweiterbar
bleiben. Eine gemeinsame Darstellung/Internet-Präsenz ensteht durch verlagernde
Überlappungen und stetige Ausweitung, welche sich nie wiederholt und somit kontinuierlich
assoziative Spannung erzeugt.
Technisch
werden die drei Ströme durch "Keyworx" gebunden, eine Software, die
es erlaubt Ton, Bild und Text in Interaktion treten zu lassen. Keyworx ist kostenfrei
und steht mit "Steim", dem renomierten Institut für künstlerisch elektronische
Medienforschung, Amsterdam in Verbindung. ( www.keyworx.org / www.steim.org
) Keyworx kann dezentral verwaltet werden. Als Hardware werden zwei Computer
benötigt. Um die Präsentaion einem grösserem Publikum zugänglich zu machen,
werden die Dienste eines gemeinnützigen Servers empfohlen. (z.B. www.heimat.de
, www.kulturserver-saarland.de )
Streaming
Poetry ist eine künstlerische Darstellung von Dokumenten. Eine Betrachtung von
A bis Z wird nicht angestrebt, sondern vielmehr eine Förderung der Neugier nach
permanenten Verläufen, die eine Re€exion des Daseins zulassen und das Kontinuum
einer natürlichen Landschaft repräsentieren: Ich/Kultur Natur Jetzt.
"Die reife Schönheit erblüht im hohen
Alter am Sicherinnern"
"Das Öl nur Eis noch Der Lichtschein
dünn geworden Als ich erwachte!"
Bashô
Götz Rogge
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