IndustrieKultur Saar GmbH

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Internationales Interaktionslabor

 

 

"Visionsraum"

 

Paulo C. Chagas


Klangraum als intertextuelle Situation
Gedanken über die Uraufführung von

 

Klangraum-Installation
mit interaktiver Textprojektionam 12.07.2003 im Verlesesaal der Göttelborner Mine
im Rahmen des Internationalen Interaktions-Labors


Paulo C. Chagas: Komposition, Klangraum-Installation
Arjen Keesmaat: Textprojektion, Interaktives Grafik-Design
Mark Henrickson: Interaktives Sound-Design
Camilla Turner: Performance, Video
Alan Smith: Video
Hartmut Dorschner: Saxofon
Heidi Dumreicher: Netzwerk-Kommunikation
Texte von Johannes Birringer, Kelli Dipple, Camille Turner und Novalis

 

 


1 – Visionen
1.1. Zeichen der Vergangenheit


Wenn man durch das Gelände der Göttelborner Grube spaziert – vor allem, wenn man die zahlreichen Gebäude betritt – ist es kaum zu vermeiden, dass man von der Vergangenheit eingeholt wird, und zwar von jener Vergangenheit, die mit der jüngsten Geschichte des Bergwerks verbunden ist. Das Göttelborner Bergwerk in seiner jetzigen Form besteht seit Ende der 1880er Jahre; im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die Anlage modernisiert, der hochragende neue Förderturm erst Mitte der 1990er Jahre errichtet. Wenige Jahre später wurde ihr Betrieb eingestellt, so dass sich die Anlage noch in einem relativ guten Zustand befindet.


Aber man wird in der Grube auch in seine eigene Vergangenheit versetzt. Die imposante Architektur der Grubenanlage, die Mischung aus Verwaltungs- und Produktionsräumen, riesigen Hallen, Maschinenparks, Transportwegen und vor allem die Eingänge zur Tiefe der Erde – die dicht gemacht worden sind und dadurch noch mysteriöser wirken –, alles, was wir betrachten, ist Zeichen einer unmittelbaren Vergangenheit. Man fängt an, die Geschichte der Grube zu rekonstruieren und dabei rekonstruiert man sich selbst.
Wir, die Teilnehmer des Interaktions-Labors, das von Johannes Birringer konzipiert und geleitet worden ist, wurden für zwei Wochen in die stillgelegten Landschaft der Göttelborner Grube versetzt. Wir sahen die Spuren der Industriegesellschaft, und wir haben uns vorgenommen, Möglichkeiten der Kunst, der interaktiven Medien und der mobilen Kommunikation in der Grube zu erforschen. Im Hintergrund stand die Idee, neue Perspektiven auszuloten: für die Grube als Produktionsort – für welchen Zweck auch immer – und für uns selbst als Künstler.


Wir hatten die Gelegenheit, die leeren Räume des Bergwerks frei zu betreten und wir haben uns vorgenommen, die Räume durch unsere künstlerische Aktivität zu verändern. Unsere Visionen sollten in der Göttelborner Grube projiziert werden.


1.2. Verlesesaal


Der Verlesesaal der Göttelborner Grube imponiert durch seine Größe. Er ist hoch und viereckig. Im Erdgeschoss liegt der Raum, in den früher die Kumpel kamen, um sich zu melden, wenn ihre Namen verlesen wurden. Danach marschierten sie durch den langen Flur und gingen zu den Zechen. Im Verlesesaal haben sich in der Vergangenheit, als die Mine noch im Betrieb war, Hunderte von Männer versammelt. Dort hatte man die letzte Gelegenheit, sich von der Luftsphäre zu verabschieden. Nachdem man seinen Namen gehört hatte, ging man ins Innere der Erde.


Der Verlesesaal ist also die letzte Verbindung mit der Welt „draußen" – dem Äußeren. In einer der vier Ecken ist er durch einen zusätzlichen Raum erweitert, in dem sich – durch die Dunkelheit geschützt – ein Sancta Barbara-Altar befindet. Barbara ist die Schutzheilige der Bergarbeiter und der Altar ein buntes Mosaik an der Wand. Die zahlreichen Schalter, die sich an zwei Seiten des Vierecks dicht nebeneinander befinden, geben dem Verlesesaal den Eindruck von einem riesigen Amt, wie z.B. einem Postamt der 70er Jahre. Aber die Gestaltung des Barbara-Altars erinnert an Kirchenfenster, und dadurch verändert sich die Stimmung des Raums: Das profane Amt wird sakralisiert.


1.3. Mehrkanaliger Klangraum


Im Visionsraum, meinem Beitrag zum Interaktions-Labor, tauchen Visionen in Form von Klang, Sprache, Bild, Video, Performance und Musik auf. Der Verlesesaal der Göttelborner Mine wurde zum Erlebnisraum. Die Architektur des Raums – die viereckige Form und die hohe Decke – bietet sich für mehrkanalige Beschallung an. Die Lautsprecher wurden im zweiten Stock, wo sich eine Galerie befindet, an die vier Ecken des Raums gestellt.


Die Komposition des Klangraums greift auf ein Repertoire von multi-lingualen Sprachklängen und auch auf Klänge, die in der Göttelborner Mine aufgenommen wurden, zurück. Die Klänge werden im Raum durch die vier Lautsprecher-Kanäle verteilt. Die Mehrkanaligkeit erweitert die akustische Wahrnehmung des Raums. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen sind mit der Position und der Bewegung der Betrachter im Raum gekoppelt.


In der Mitte des Saals erlebt man eine Intertextuelle Polyphonie von leisen Stimmen, Sprachklängen und Klängen aus der Grube, die den Verlesesaal in einen schwebenden Zustand versetzt. In der Ecke dominieren einzelne Texte und Klänge, und von dort betrachtet man die anderen akustischen Ereignisse aus der Ferne. Bewegt man sich durch den Raum, dann setzen sich die Zwischenbereiche und die Übergänge zwischen den Klangschichten durch.


2. Wozu Visionen?


Wir brauchen Visionen, um die Wahrnehmung von Zeit und Raum zu synchronisieren. Visionen durchdringen die Zeit und den Raum wie feste Körper, die dadurch flüssig werden: Durch Visionen wird das Dasein zum Kontinuum. Dass die Existenz als ein Durchdringen von Zeit und Raum zu verstehen ist, wurde schon von dem deutschen Dichter Novalis (1772-1801) angedeutet: Ein durchdrungener Raum ist ein Zeitraum. Eine durchdrungene Zeit - eine Raumzeit (Novalis 1983).


Durch Visionen definieren wir also Positionen im Zeitraum und in der Raumzeit. Wir konstruieren Einheiten wie z.B. Gesellschaft, Kultur, Kunst, Raum- und Zeitproportionen, Gebäude, Werke, Intervalle, Interfaces usw. Wir existieren also im Bezug auf solche Einheiten.


In Visionen polarisieren sich die Gegensätze, die uns helfen, unsere Positionen im Zeitraum und in der Raumzeit zu definieren wie z.B. Vergangenheit und Zukunft, Inneres und Äußeres, Reales und Virtuelles usw.
Visionen besitzen auch das Merkmal, sich ständig zu verändern. Man bewegt sich zwischen den Positionen, d.h. durch die Visionen, die im Zeitraum und in der Raumzeit bestimmt wurden. Man geht in die Zukunft und zurück in die Vergangenheit, und dadurch wird die Gegenwart definiert. Man überquert ständig die Grenze wie z.B. zwischen Innen und Außen, zwischen realer und virtueller Wahrnehmung.


Betrachtet man Visionen als Zeichen, dann fragt man, wie sich Zeichen im Zeitraum und in der Raumzeit verhalten. Zeichen können als Objekte, aber auch als Bewegungen im Zeitraum und in der Raumzeit definiert werden. Die Bewegungen sind fließend und hinterlassen Spuren. Noch einmal Novalis:
Zeit und Raum entstehen zugleich und sind also wohl eins, wie Subjekt und Objekt. Raum ist beharrliche Zeit – Zeit ist fließender, variabler Raum – Raum – Basis alles Beharrlichen – Zeit – Basis alles Veränderlichen. Der Raum ist das Schema – die Zeit der Begriff – die Handlung (Genesis) dieses Schemas. (Allem Moment muss ich einen Vor- und Nachmoment hinzudenken) (Novalis 1983).2 – Arbeitsprozess


2.1. Komposition mit der Sprache


Das Konzept des Visionsraums ist während des zweiwöchigen Aufenthalts im Interaktions-Labor (1.-14.07.2003) entstanden. In einem unserer Workshops habe ich die Stichwörter „Hunger", Gedächtnis" und „Erinnerung" als Anregung für eine Zusammenarbeit lanciert. Ich hatte schon die Absicht, eine Komposition auf der Grundlage von Sprachklängen zu entwickeln und brachte einige Klangmaterialien mit, die zu diesem Zweck verwendet werden konnten, u. a. Aufnahmen von Texten von Novalis und von meiner eigenen Stimme.
Johannes Birringer, Camille Turner und Kelli Dipple gingen auf meine Vorschläge ein. Johannes und Camille schrieben dazu neue Texte, und Kelli trug mit einem vorhandenen Text und mit Vokalimprovisationen bei. Johannes’ Text ist durch Assoziationen mit der Mine, eigene Erinnerungen und Visionen geprägt. Camille schrieb über ihren Vater und thematisierte dabei seine Arbeit und die Beziehung zur Familie. In Kellis Text und Improvisationen werden Begriffe wie Interface und Intervalle mit inneren Zuständen verknüpftet.
Johannes, Camille und Kelli haben ihre Texte selbst vor dem Mikrophon gelesen und interpretiert. Ihre Stimmen wurden in einem Aufnahmestudio aufgenommen, das in einem „inneren" Raum der Schwarz-Weisskaue eingerichtet wurde. Das Studio als Raum der akustischen Erfahrung und des akustischen Erlebnisses hat sich als ein Ort für Begegnung und Zusammenarbeit entwickelt.


Mark Henrickson und ich gingen mehrmals durch die Mine, um Klänge aufzunehmen. Wir haben die Klänge zusammen gehört und teilweise gemeinsam editiert. Eine Auswahl dieser Klänge wurde in Visionsraum verwendet. Wir haben auch das Konzept eines interaktiven Klangdesigns für Visionsraum entworfen, das Mark mit Max/MSP zum großen Teil verwirklicht hat, das jedoch aus Zeitgründen leider nicht in die Aufführung integriert wurde. Das Konzept einer interaktiven Klangraumkomposition war sehr komplex, und Mark war gleichzeitig mit anderen Projekten ziemlich beschäftigt.


Die interaktive Textprojektion von Visionsraum entwickelte sich aus einer früheren Arbeit von Arjen Keesmaat, in der Aktionen vom Publikum durch Bewegung von Buchstaben sichtbar werden. Die Worte aus den Texten von Johannes, Camille, Kelli und Novalis tauchen auf dem Boden des Verlesesaals auf. Sie werden von oben projiziert und sind nur sichtbar, wenn sich die Leute auf der Projektionsfläche bewegen. Die Aktivität auf der Fläche wird mit einer Infrarotkamera registriert und dient als Steuerparameter für die Gestaltung des projizierten Texts. Die Buchstaben kommen aus der Nichts, werden größer oder kleiner und bewegen sich kurvenartig in schnellen oder langsamen Bewegungen der Geschwindigkeit der Schritte und entsprechend der Anzahl der Menschen auf der Projektionsfläche.


Die Zusammenarbeit mit Camille führte zu der selbständigen Performance Heiße Glut, die im Visionsraum integriert wurde. Die Idee der Performance entwickelte sich aus unserem gemeinsamen Interesse an afro-amerikanischen Religionen wie Candomblé (Brasilien), Santeria (Cuba, USA), Voudou (Haiti) usw. Eins der Merkmale dieser Religionen ist der Synkretismus zwischen ihren Göttern, die „Orishas" genannt werden, und den christlichen Heiligen. Die synkretistischen Assoziationen sind je nach Ort und Religion unterschiedlich. So wird z. B. die heilige Barbara u. a. mit dem männlichen Orisha Shango (der Gottheit von Feuer, Blitz und Gerechtigkeit) und der weiblichen Orisha Yansan (der Gottheit von Wind und Sturm) in Verbindung gebracht.


2.2. Audiovisuelle Komposition


Parallel zu der Arbeit am Visionsraum habe ich im Interaktions-Labor mit anderen Künstlern in deren Projekten zusammengearbeitet. Dazu zählt vor allem die Audiokomposition (Soundtracks) für vier Videos von Alain Smith –Outlook; Eingang – Ausgang; Sicherheit beginnt im Kopf; Ordnung ist Sicherheit –, die er in der Mine gedreht und produziert hat. Die Videos wurden im Verlesesaal gezeigt und optisch und akustisch ebenfalls im Visionsraum integriert.
Ich habe auch Marija Stamenkovic geholfen, die Audiospur ihres Videos zu gestalten. Das Video war ein Teil der Performance Do U C Me You, die sie in einem kleinen Raum (Zeitmaster) der Schwarz-Weisskaue gezeigt hat.


Für die interaktive Performance von Marion Tränkle und Jim Ruxton habe ich Samples von Marions Stimme aufgenommen und editiert. Die Sensoren, die Jim zum Interaktions-Labor mitgebracht hat, bieten faszinierende Möglichkeiten für die interaktive Komposition mit Bewegung und Raum. Ich hätte gern mit Jim zusammengearbeitet und hatte einige Ideen dafür skizziert, aber die Zeit war zu knapp.


Bei der Zusammenarbeit mit den verschiedenen Künstlern ist mir noch einmal ein Gedanke deutlich geworden, der in meinem kompositorischen Schaffen eine zentrale Rolle spielt: Die Notwendigkeit, die Klänge im Raum zu erfahren. Manche Videokünstler z. B. arbeiten vor dem Bildschirm und konzentrieren sich vor allem auf das, was sie vor den Augen haben. Sie hören die Klänge meistens mit Kopfhörer oder aus kleinen Computerlautsprechern. Dadurch spielt die räumliche Dimension des Klangs – wie sich die Schallwellen im Raum entwickeln – nur eine Nebenrolle oder gar keine Rolle in der visuellen Gestaltung.


Ich halte es für äußerst wichtig, das Bewusstsein auf die integrierte Wahrnehmung von Klängen, Bildern und Bewegungen im Raum zu lenken. Die Möglichkeiten der akustischen und optischen Synchronisation – und natürlich die Möglichkeiten ihrer Umkehrung: der De-Synchronisation – können nur sinnvoll erforscht werden, wenn der Raum als Parameter in die intermediale Komposition einbezogen wird.


Die akustische Gestaltung von physischen Klangräumen und die Simulation von virtuellen Klangräumen sind nur zwei Aspekte eines breiten Feldes, dessen Potential durch die elektroakustische Musik und die audiovisuellen Medien ans Licht gebracht wurde. Beim Entwerfen von Klangräumen zeigt sich auch deutlich die Notwendigkeit des interdisziplinären Ansatzes, wie z. B. der Zusammenarbeit zwischen Klangkünstlern, Designern und Ingenieuren.

 

3 – Die Klangraum-Installation


Die Bezeichnung meines Beitrags zum Interaktions-Labor als Visionsraum – Klangraum-Installation – hat eine symbolische Konnotation. Die Ästhetik und der Entstehungsprozess sind typisch für meine Kompositionsweise in weitestem Sinn. Ich arbeite gern mit unterschiedlichen Materialien, Medien und Formen und versuche ständig, das Neue in die Tradition einzubinden. Die Technologie steht nicht für sich selbst, sondern ist ein Instrument unseres Daseins. Das Ritual – das Ritualisieren von Erfahrungen und Prozessen – ist eine unentbehrliche Dimension meines Schaffens.


Wie bereits erwähnt, wurde die Idee einer Klangraum-Installation im Interaktions-Labor geboren und durch die Zusammenarbeit mit den anderen Teilnehmern geprägt. Neben dem Raum wurde die Sprache zum wichtigsten Medium der Installation. Sie wird als akustisches Medium der Kommunikation zur musikalischen Form und taucht als Schrift im Raum auf. Die visuelle Projektionsfläche auf dem Boden dient gleichzeitig als Interaktions-Interface. Sie reagiert auf die Bewegung des Beobachters, der die Möglichkeit haben sollte, Fragmente von Sätzen und Wörtern interaktiv zu transformieren, sowohl visuell als auch akustisch.


Die akustische Transformation der Klang-Samples ist also ein Bestandteil der Komposition, obwohl sie in der Aufführung am 12.07.2003 nicht angeboten werden konnte.


Organisation in Schichten
Der Klangraum von Visionsraum ist in drei Schichten organisiert:
Schicht 1 ist ein Grundklang,
Schicht 2 besteht aus Klangsegmenten, und
Schicht 3 ist durch die Klangtransformationen gekennzeichnet.
Betrachtet man die Organisation der Schichten im Sinne der Semiotik von Charles S. Peirce (1992), dann sind folgende Überlegungen möglich:
Schicht 1 gehört zur Kategorie der Firstness,
Schicht 2 zur Kategorie der Secondness, und
Schicht 3 zur Kategorie der Thirdness.


3.1. Schicht 1 – Grundklang: Schwebungen


Die Kategorie der Firstness ist das Dasein. Der Raum wird im positiven Sinn als physisches Phänomen wahrgenommen, ohne Referenz zu etwas anderem. Die Klänge, die diese Schichten gestalten, stellen einen organischen Prozess dar. Der Basisklang, von dem alle Klänge dieser Schicht abgeleitet sind, ist ein von mir gesungener Laut – [u] – mit der Tonhöhe F#2 (MIDI-Note 54, circa 185 Hz). Die ursprüngliche Dauer dieses [u] – circa zwölf Sekunden – wurde durch Time-Stretching 48 Mal ausgedehnt. Dadurch wurden sechs unterschiedliche Klänge generiert, die jeweils eine Länge von circa zehn Minuten haben.


Die sechs Grundklänge unterscheiden sich durch die spektrale Auflösung des FFT-Algorithmus, mit dem das Time-Stretching erzeugt wurde. Die Klänge mit höheren Auflösungen werden als „Konsonanz" und die Klänge mit niedrigen Auflösungen als „Dissonanz" empfunden, wobei hier die Begriffe Konsonanz und Dissonanz nicht im herkömmlichen Sinn von Zusammenklang, von Intervallen zwischen zweien oder mehreren Klängen, sondern als unterschiedliche Auflösungen des Spektrums zu verstehen sind. Eine hohe Auflösung erzeugt eine hohe Anzahl von Obertönen, und dadurch wird das Spektrum als „harmonisch" empfunden. Der Klang ist sozusagen „glatt". Bei niedrigen Auflösungen steigt die Empfindung von „Rauhigkeit", die das Phänomen der Dissonanz charakterisiert.


3.1.1. Zusammenklang und Zeitauflösung


Seit Helmholtz (1913) hängt die Empfindung von Rauhigkeit von den Schwebungen zwischen den Obertönen komplexer Klänge ab. Aber hier wird Rauhigkeit – also die Empfindung von Konsonanz und Dissonanz – im Sinn von digitaler Zeitauflösung definiert. Und so wird ebenfalls das Konzept von Harmonie umdefiniert: Die Harmonie eines Zusammenklangs kann nicht nur durch Synchronisation von Obertönen, sondern durch die Synchronisation von digitalen Zeitauflösungen entstehen.
Die sechs Klänge der Grundschicht bilden eine Skala von Konsonanz zu Dissonanz – also von hoher zu niedriger Auflösung –, die hier mit dem Buchstaben A, B, C, D, E, F gekennzeichnet wird. Bei der Verteilung der Klänge im viereckigen Raum kommt es darauf an, eine räumliche Balance zwischen Konsonanz und Dissonanz herzustellen. Bei jedem Grundklang hört man einen mehr oder wenig periodischen Rhythmus, der von dem Time-Streching-Algorithmus abhängig ist.


Der Rhythmus entspringt aus der Wahrnehmung der Zeitauflösung. Jeder Rhythmus ist für sich nicht unbedingt interessant, aber die Interferenzen zwischen den sechs Rhythmen erzeugen einen lebendigen Zusammenklang (Tonhöhe F#2), wodurch der Klangraum zu „schweben" scheint.


Die Verteilung der sechs Grundklänge der ersten Schicht im Klangraum folgt zwei Ordnungsprinzipien (s. Abb. 1):
1) Eine Spirale von Konsonanz zu Dissonanz (oder umgekehrt) bildet sich im Raum durch die Lautsprecher in den vier Ecken. Klang A wird auf Lautsprecher 1 platziert, Klang B auf Lautsprecher 2, Klang C auf Lautsprecher 3 und Klang D auf Lautsprecher 4.
2) Die zwei Klänge mit den niedrigsten Auflösungen – also die dissonantesten Klänge – werden auf zwei gegenüberliegenden Seiten des Raums platziert: Klang E wird auf die Lautsprecher 2 und 3 verteilt und Klang F auf die Lautsprecher 1 und 4. Die zwei anderen Seiten des Raums – die Seite zwischen den Lautsprechern 1 und 2 und die gegenüberliegende Seite zwischen den Lautsprechern 3 und 4 – bleiben sozusagen „unbesetzt".

 

 


Abb. 1: Verteilung der sechs Grundklänge der Grundschicht 1

 

3.2. Schicht 2 – Klangsegmente: Loops und Kopplungen


Die Kategorie der Secondness bezieht sich auf Objekte. Die Klänge dieser Schicht haben ihren Ursprung in der „Realität" draußen und stellen Verbindungen zwischen dem inneren und dem äußeren Klangraum dar.


Die Komposition dieser Schicht ist in Form von Loops und Kopplungen strukturiert. Die Loops wurden aus Segmenten von sieben Klang-Familien gebildet:


Vier Familien von einzelnen Sätzen und manchmal einzelnen Wörtern aus den vier Texten von Johannes, Kelli, Camille und Novalis.
Drei Familien von einzelnen Klängen aus drei anderen Klanggruppen: den Sprachklängen von mir, den Vokalimprovisationen von Kelli und den Klängen aus der Göttelborner Mine.


Beim Schnitt der einzelnen Segmente wurde darauf geachtet, dass die Loops nahtlos wiederholt werden können, ohne das man den Schnitt merkt, und dass die Segmente einer Familie nacheinander gehört werden können, um jeweils eine Sequenz zu bilden, also einen „fließenden" Klang.


Tabelle 1 zeigt eine Übersicht der sieben Familien von Texten und anderen Klängen und der Anzahl von Loop-Segmenten:

 


Klang-Familien - Anzahl der Loop-Segmente
Johannes’ Text 14
Kellis Text 16
Camilles Text 28
Novalis’ Text 47
Sprachklänge von Paulo 42
Vokalimprovisationen von Kelli 20
Klänge aus der Mine 56

Tabelle 1: Klanggruppen und Segmente

 

Durch Kopplungen entstehen feste Verbindungen zwischen den vier Texten und den drei anderen Klanggruppen: Der Text von Johannes wird mit den Sprachklängen von Paulo, der Text von Kelli mit ihren Vokalimprovisationen, und der Text von Novalis mit den Klängen aus der Mine gekoppelt. Der Text von Camille stellt eine Ausnahme dar: Er ist mit sich selbst, d.h. mit seiner eigenen Transformation, gekoppelt.


Jede der vier Kopplungen bildet eine formale Einheit, bei der ein Text mit anderen Klängen konfrontiert wird. Im Fall von Camilles Text findet die Konfrontation mit sich selbst statt. Die gekoppelten Klänge erfüllen unterschiedliche semantische Funktionen für die Transformationen der Texte: Ersatz, Erweiterung, Ergänzung, Schattierung, Kontrast, Verdopplung usw.


3.2.1. Johannes’ Text / Sprachklänge von Paulo


Johannes’ Text ist durch persönliche, intime und geheimnisvolle Aussagen gekennzeichnet. Die damit gekoppelten Sprachklänge von Paulo, Dauertöne, Glissandi, Schreien, Flüstern usw. wurden 1990 im Studio für Elektronische Musik des WDR aufgenommen und bis dahin noch nicht verwendet. Sie stellen unterschiedliche Charaktere dar, erwecken vertraute und unvertraute Stimmungen und Assoziationen.
In der Komposition des Klangraums werden die Sprachklänge von Paulo die Atmosphäre von Johannes’ Text sowohl unterstützen als auch widerlegen und verfremden.


3.2.2. Kellis Text / Vokalimprovisationen von Kelli


Kellis Text handelt von Metaphern zwischen technologischen Begriffen wie Interfaces, Intervallen usw. und inneren Erlebnissen. Die Vokalimprovisationen von Kelli sind durch extreme und schnelle Wechsel und Zustände gekennzeichnet, bedingt durch den Performance-Charakter. Die Stimme macht schnelle Sprünge zwischen den tieferen und höheren Tonlagen.


3.2.3. Camilles Text / Transformation von Camilles Text


Camilles Text bildet insofern eine Ausnahme, als er nur mit sich selbst, d.h. mit seiner eigenen Transformation, korreliert. Ein Grund dafür (aber nicht ausschließlich) ist die Tatsache, dass Camille in der Installation als aktive Performerin auftritt. Die Kopplung von Camilles Text mit sich selbst hat auch einen intertextuellen Charakter: Der Text kommentiert sich selbst und wird von der Performance kommentiert.


3.2.4. Novalis’ Text / Klänge aus der Mine


Die Texte von Novalis (1772-1801) wurden von Kornelia Bittmann aufgenommen und teilweise in meinem Hörspiel Der Blaue Raum (2001) verwendet. Es sind Notizen und Fragmente von wissenschaftlichen und philosophischen Abhandlungen. Sie behandeln Begriffe wie Raum, Zeit, Gefühle, Krankheiten, Mineralien, Feuer, Menschen, Kunst, Physik, Krankheiten usw. Die poetische Sprache von Novalis stellt eine Mannigfaltigkeit von Verbindungen zwischen Kunst, Wissenschaft, Technik und Philosophie dar. Dies kann als visionäre frühere Form des systemischen Denkens betrachtet werden.


Der französische Philosoph Gaston Bachelard (1884-1962) hat Novalis als Dichter der Höhle bezeichnet. Seine Poesie bringt uns in die Tiefe der Erde, lässt uns die innere Wärme spüren. Aus der mystischen Dunkelheit funkeln die Worte wie Kristalle oder Edelsteine. Die Sprache Novalis‘, der selber Geologe war, drückt vor allem die Sehnsucht nach der Bedeutung aus. Der Text vibriert, verliert sich ins Unendliche; die Resonanz der Worte enthüllt die Geheimnisse des Klanges.


Die Klänge aus der Mine wurden mit verschiedenen Objekten in unterschiedlichen Räumen und mit unterschiedlichen Spielweisen produziert: durch Schlagen, Streichen, Kratzen, Werfen, etc. Die Art und Weise, wie die Objekte gespielt wurden, stellt schon musikalische Klänge und Strukturen dar.


3.3. Schicht 3: interaktive Klangtransformationen


Die Kategorie der Thirdness ist durch die Verbindung zwischen Objekten und Zeichen gekennzeichnet. Diese Verbindung ist ein Ausdruck des Bewusstseins. Die Klänge der dritten Schicht werden durch Transformationen der Klänge der zweiten Schicht erzeugt. Die Transformationen sollen die spezifische Qualität der Thirdness hervorbringen, nämlich das zukünftige Potential der Secondness.


Die lineare Kausalität der Loop-Segmente, die sehr stark durch den „narrativen" Charakter der Texte (Johannes, Kelli, Camille und Novalis) und den „illustrativen" Charakter der gekoppelten Klänge (Klänge aus der Mine, Sprachklänge und Vokalimprovisationen) geprägt ist, wird durch die digitale Manipulation der Samples gesprengt. Bei den Effekten handelt es sich um Manipulationen der spektralen Eigenschaften der Klänge – wie z.B. Filter, Resonanz-Filter, Pitch-Shift, Delay, usw – oder Klangsynthese-Techniken wie z.B. Granularsynthese.


Die Prozesse der Transformationen wurden mit Max/MSP und VST-Plugins programmiert. Sie haben die Funktion, das Spiel in den Klangraum zu bringen. Diese spielerische Funktion bestimmt das interaktive Klangdesign.
Das Konzept von Visionsraum sieht ein interaktives Spiel zwischen der Textprojektion auf dem Boden und den Klangtransformationen im Klangraum vor. Die Sätze oder Wörter sollen gleichzeitig akustisch (als Loop-Segmente) und visuell (als Buchstaben) transformiert werden. Die Spielstrategien wie z.B. die Auswahl der Loop-Segmente und der Klangdesign-Algorithmen bestimmen also die Komposition der dritten Schicht.


Die interaktiven Klangtransformationen der dritten Schicht erzeugen auch Bewegung im Klangraum. Die Loop-Segmente der zweiten Schicht sind auf die vier Lautsprecher in den Ecken platziert; sie besetzen sozusagen feste Positionen. Aber sobald ein Loop-Segment transformiert wird, verlässt es seinen ursprünglichen Ort und wandert im Raum: Es geht z. B. zu einer anderen Ecke oder zu einer Seite hin. Die Art und Weise, wie sich die transformierten Klänge im Klangraum bewegen, ist gleichfalls Teil der Spielstrategie.
In der Uraufführung von Visionsraum am 12.07.2003 im Verlesesaal der Göttelborner Mine wurde die Schicht 3 nicht präsentiert (Grund s.o.).


Abb. 2 zeigt die Organisation der Schichten 1 und 2 im Klangraum. Es gibt vier Paare, die aus Loop-Segmenten und gekoppelten Effekt-Klängen bestehen. Jedes Paar ist auf eine Ecke des Klangraums lokalisiert und bewegt sich von dort aus zu den anderen Lautsprechern, wenn die Klange transformiert werden.

 

 

 

 

Abb. 2: Verteilung der Klänge der Schichten 1 und 2

 

 

4 – Interdisziplinarität


Betrachtet man Visionsraum aus der Perspektive der existentiellen Semiotik (Tarasti 2002) dann kann man hier von einem Werk sprechen, das sich als „Situation" für Interdisziplinarität versteht. Eine Situation ist eine gewisse Partikularität, eine Mischung von Seins-Formen in realen und virtuellen Kontexten. Der interdisziplinäre Charakter von Visionsraum bezieht sich einerseits auf die Art und Weise, wie das Konzept im Interaktions-Labor entstanden ist, und andererseits auf die Tatsache, dass der Klangraum Möglichkeiten für die integrative Entwicklung anderer Aktionen und Events bietet.


Der Begriff der Interdisziplinarität bezeichnet nicht nur die Kombination verschiedener Kunstformen in einem Werk, wie z. B. die Kombination von Musik mit Theater in der Oper, von Musik mit beweglichen Bildern im Film oder die neue Gattung Musikvideo. Mit Interdisziplinarität wird hier vielmehr eine intertextuelle Situation bezeichnet, in der die bestehenden Elemente, Aktionen, Events usw. aus der Perspektive der anderen Elemente, die sich in der selben Situation befinden, verstanden werden sollen. Die interdisziplinäre Situation erfordert ein ständiges Recycling der Materialen und der Wahrnehmungen im intertextuellen Raum. Die Referenzen sind nicht linear, sondern synchron im existentiellen Sinn: Der Beobachter – der Zuschauer, der Performer, der Komponist, der Designer usw. – muss mit der existentiellen Situation des Klangraums „synchronisiert" sein, um eine Verbindung mit den intertextuellen Ereignissen herzustellen.


4.1 Sprache


Die Sprache spielt in Visionsraum eine Rolle als Bindeglied zwischen den verschiedenen interdisziplinären Ebenen. Man kann diese Rolle unter drei Aspekten betrachten.
Erstens: Die Sprache vermittelt das Modell der narrativen Aktion: Das ist die Situation des Textes. Beim Betreten des Klangraums achtet man zuerst auf die Erzählung von Geschichten – d.h. auf die Texte, die linear gesprochen werden. Im narrativen Modell gibt es gleichzeitig die Situation des Erzählers (er sendet eine Botschaft) und die Situation des Hörers (er horcht auf die Botschaft).


Zweitens: Die Sprache wird mit dem Raum identifiziert und zwar, wenn die Sprachklänge als Teil einer aktiven musikalischen Situation wahrgenommen werden. Man achtet auf die Aktionen, durch die Texte und andere Klänge als Akteure und Events interpretiert werden. Events bedeuten immer eine Veränderung, und hier findet eine Veränderung des Klangraums durch die mehrkanalige Komposition statt. Die Verteilung der Klänge im Raum fordert den Zuhörer auf, sich im Raum zu bewegen, um die Individualität der Akteure und Events zu identifizieren. Beim Prozess der Identifikation wird die Situation des Raums transzendiert: Der physische Raum wird abstrahiert und wird durch die möglichen Visionen des Beobachters (des Zuhörers) rekonstruiert.


Drittens: Die Sprache taucht als Intertextualität auf. Der erste intertextuelle Bezug besteht in der Möglichkeit, die einzelnen Texte durch die anderen zu interpretieren. Die Bedeutung jedes Texts wird innerhalb des mehrkanaligen Klangraums definiert, wobei die intertextuellen Referenzen nicht primär durch die Semantik der Texte, sondern vor allem durch die musikalische Gestaltung des Klangraums konstruiert werden. Ein weiterer und noch deutlicherer intertextueller Bezug wird durch die Beziehung zwischen den gesprochenen Texten und den Buchstaben, die auf dem Boden projiziert sind, hergestellt. Der intertextuelle Kontext dieser Verbindung wird durch die „Interaktivität" erweitert.


4.2 Interaktivität


Die Idee der Interaktivität bedeutet, im Visionsraum einen Kontext von Referenzen zu schaffen, damit der Raumbeobachter sich aktiv an der Gestaltung und Transformation beteiligen kann. Die Interaktivität bedeutet auch die Möglichkeit, den unsichtbaren technologischen Raum durch den physischen Körper zu artikulieren und dadurch sichtbar zu machen.
Der erste Schritt dafür ist die interaktive Textprojektion von Arjen Keesmaat. Die Projektionsfläche auf dem Boden befindet sich nicht in der Mitte, sondern an einer Seite des Raums. Der Beobachter betritt die Projektionsfläche und muss ungewöhnliche Bewegungen mit seinem Körper produzieren – schnell gehen, rennen, springen, die Arme bewegen usw. –, um das interaktive Verhalten der Buchstaben zu aktivieren. Bei der Bewegung verändert sich auch die akustische Wahrnehmung: Wenn man steht, hört man anders, als wenn man durch den Raum spaziert.


Eine noch explizitere Ebene der Interaktivität ist das geplante und bei der Uraufführung nicht realisierte interaktive Sound-Design (Mark Henrickson). Dadurch werden die aktiven Bewegungen der Beobachter nicht nur „sichtbar", sondern auch „hörbar". Der Beobachter wird zum Akteur in einer Welt von gegenseitigen Referenzen, in dem grafische Zeichen durch Klänge interpretiert werden können und umgekehrt. Grafik-Design und Sound-Design sind zwei Aspekte des virtuellen interdisziplinären Raums der Installation.


4.3 Performance


Für ihre Performance Heisse Glut gestaltet Camille Turner mit Kerzenlicht, Objekten aus der Mine und anderen Gegenständen einen Raum im Klangraum. Heisse Glut aktiviert einerseits intertextuelle Referenzen zu der Geschichte der Göttelborner Mine und ihrer sozialen und kulturellen Umgebung. Andererseits stellt die Performance durch den Synkretismus zwischen christlichen und afro-amerikanischen Religionssymbolen intertextuelle Verbindungen zwischen profaner und sakraler Welt dar.


Der Performanceraum in der Mitte des Raums wirkt wie ein Altar, und Camille koordiniert ihre Aktion mit dem Klangraum und der Projektion ihrer Videos. Während der Performance werden die interaktiven Buchstaben ausgeschaltet; stattdessen erscheinen Camilles Videos auf der Projektionsfläche auf dem Boden. Der Zuschauer wird in die Situation einer religiösen Zeremonie oder eines Kults versetzt. Die Performance endet mit einem Lied zu Ehren der heiligen Barbara, gesungen vom Gustav-Weber-Chor, einem Männergesangverein aus der benachbarten Gemeinde Quierschied. Die Anwesenheit des Chors während der ganzen Performance betont den soziokulturellen Kontext der Klangraum-Installation.


Durch die Verbindung zwischen der typisch deutschen Tradition des Männergesangvereins und der prospektiven Welt der digitalen Apparate wird eine Kontinuität zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hergestellt. In Anlehnung an die Gedanken von Novalis (s.o.) könnte man sagen: Der Chor im Klangraum stellt eine Vision dar, die die Zeit und den Raum durchdringt. Oder – nach der Semiotik von Peirce: Das Barbara-Lied stellt eine symbolische Relation von Thirdness dar, die eine „Ordnung" im „Chaos" des Klangraums schafft und uns bei der Orientierung in Richtung Zukunft hilft.


4.4 Andere Aktionen


In der Uraufführung von Visionsraum am 12.07.2003 im Verlesesaal der Göttelborner Mine wurden auch zwei andere Ereignisse integriert: Zuerst (zeitlich gesehen) fand die Solosaxofon-Improvisation von Hartmut Dorschner statt und danach die Projektion von sechs Videos von Alan Smith.


Hartmuts Improvisation mit dem Sopransaxofon war eine reine akustische musikalische Darbietung. Er spielte ohne Verstärkung, bewegte sich durch den Raum und benutzte den Klangraum als eine Art Klangkulisse für die langen, weit gezogenen Melodien seines Saxofonspiels.


Die sechs Videos von Alan Smith wurden auf einer Leinwand an der Seite des Raums gegenüber der interaktiven Projektionsfläche projiziert. Die Videos stehen als Zeichen für Alans Auseinandersetzung mit der Göttelborner Mine in den zwei Wochen Aufenthalt im Interaktions-Labor. Die Realität der Mine erscheint in den Videos durch den Schein eines inszenierten Alltags. Alan selbst agiert als Figur in verschiedenen Situationen in den Videos, z.B. als Bergarbeiter unter dem Schild „Sicherheit beginnt in Kopf", als ein vermeintlicher glücklicher Mann, der für sich ein Haus in einem Schrottcontainer baut.


Die Audiospuren der Videos wurden im Klangraum wiedergegeben und teilweise mit den Klängen der Installation gleichzeitig gehört. Diese Mischung war u. a. möglich durch die Tatsache, dass die Soundtracks der Videos vorwiegend aus Aufnahmen in der Mine bestehen. Bei vier der sechs Videos waren die Soundtracks in Zusammenarbeit von Alan und mir gestaltet.


Die Wissenschaftlerin Heidi Dumreicher, Spezialistin in Nachhaltiger Entwicklung plante eine Aktion mit dem Publikum. Ziel dieser Aktion war, die Möglichkeiten der mobilen Netzwerk-Kommunikation zur erforschen, um während der Aufführung eine Art Feedback im Visionsraum zu kreieren. Dafür sollten die von Renn Scott mitgebrachten mobilen Geräte vom Typ BlackBerry (Handheld Computers) verwendet werden. Einige Zuschauer sollten aufgefordert werden, schriftliche Messages per E-mail in den Visionsraum zu schicken. Inhalt dieser Botschaften könnten z. B. Kommentare über die Texte oder das Gesehene sein. Und der Witz dabei wäre gewesen, dass die Schriften dieser Messages zeitweise anstelle der Buchstaben auf der Projektionsfläche erscheinen sollten. Die Gedanken der Zuschauer würden sozusagen als grafische Projektion erscheinen.


Diese Aktion war zu kurzfristig geplant (Renn und Heidi kamen erst in der zweiten Woche des Interaktions-Labors an), um den technischen Aufwand in der knappen Zeit, die für die Realisierung der Aufführung zur Verfügung stand, zu bewältigten. Die Einspielung des Publikum-Feedbacks erweitert die interdisziplinäre Situation des Klangraums: Nunmehr kommen die Texte nicht nur von innen, sondern sie werden auch von den Texten, die außerhalb des Aufführungsraums kommen, kommentiert. Die mobile Kommunikation schafft einen zusätzlichen (virtuellen) Raum für den Austausch zwischen den Beobachtern und Akteuren des Klangraums. Das Feedback der Beobachter wird in die Situation integriert und reflektiert ihre Wirkung nach „außen". Diese Idee bleibt als Vorschlag für die zukünftigen Aufführungen von Visionsraum.

 

5 – Zusammenfassung


Visionsraum verdankt seine Entstehung einer glücklichen Konvergenz von Situationen und Begegnungen. Der Anstoß gab die Idee von Johannes Birringer, ein Interaktions-Labor in der stillgelegten Mine von Göttelborn in der Nähe von Saarbrücken einzurichten. Das Projekt des Interaktions-Labors beschäftigt sich mit der Frage des Recyclings der Mine als Existenz-Ort. Die existentielle Frage bezieht sich vor allem auf wirtschaftliche Perspektiven. Man hofft, durch technologische Innovationen neue Arbeitsfelder und Arbeitsplätze zu schaffen.
Im Interaktions-Labor wurden Modelle der interdisziplinären Arbeit erprobt. Das Ergebnis der zwei Wochen, in der die Teilnehmer des Interaktions-Labor auf dem Minen-Gelände intensiv zusammengearbeitet haben, sind u. a. die „Werke", die während des langen Performance-Abends am 12.07.2003 gezeigt wurden.


Visionsraum ist auch ein solches interdisziplinäres Modell. Seine Grundlage ist der Gedanke des Klangraums aus der Sicht der elektroakustischen Musik. Der Klangraum Visionsraum wurde in einem Gebäude der Göttelborner Mine – dem Verlesesaal – für die Zeit der Aufführung eingerichtet. Die Komposition des Klangraums beschäftigt sich nicht nur mit akustischen, sondern auch mit existentiellen Elementen. Einige Teilnehmer des Interaktions-Labors wirken als Akteure bei der Gestaltung des Klangraums: Sie sprechen selbst ihre Texte, die sich als Klang-Segmente in Klangraum bewegen.


Eine zweite Dimension des Klangraums ist das interaktive Design. Die Texte, die im Klangraum verteilt sind, tauchen als interaktive Projektion von Schrift auf dem Boden auf. Die Sprachklänge sollen ebenfalls durch interaktives Sound-Design transformiert werden. Das interaktive Grafik-Design von Arjen Keesmaat und das interaktive Sound-Design von Mark Henrickson verdeutlichen die intertextuelle Situation des Klangraums. Die interdisziplinären Ebenen, die ins Spiel gebracht werden, kommentieren und erklären sich gegenseitig.
Für das Beobachten stellt sich die Frage der Synchronisierung mit dem Klangraum als physische und künstlerische Erfahrung und mit den Aktionen und Events, die im Klangraum stattfinden. Das ist die dritte Dimension des Konzepts von Visionsraum. Der Klangraum soll als existentielle Erfahrung erlebt werden. Dies erfordert eine Integration der Umwelt, der Mine, in das Projekt. Die Aufführung von Visionsraum zeigt die Suche nach den Kanälen der Kommunikation mit dem Ort, den Menschen und der Geschichte der Mine.


Das Projekt des Interaktions-Labors gibt schon den Anstoß zum systemischen Denken, indem seine Existenz mit dem Weiterbestehen der Mine als symbolischer Raum verknüpft ist. Visionsraum verfolgt auch den systemischen Ansatz und setzt Zeichen für die Verbindung zwischen den verschiedenen „Systemen", die gleichzeitig in Bezug auf die Mine existieren. So ist z. B. die Mitwirkung des einheimischen Männerchors in der Performance Heisse Glut von Camille Turner als Zeichen einer Situation zu verstehen, deren Transzendenz als Verbindung zwischen verschiedenen historischen und religiösen Traditionen auftaucht.


Die Verbindung zwischen Religion, Kunst, Wissenschaft und Technologie (Novalis) und die pluralistische Existenz unterschiedlicher historischer Phasen in einer gleichen Gesellschaft sind wichtige Aspekte der intertextuellen Situation von Visionsraum. Das Werk versteht sich als Zeichen der Transition zwischen der Situation der industriellen Gesellschaft und der heutigen Situationen ihres Recyclings. Die Apparate der Informations- und Kommunikationstechnologie sollen uns dabei helfen, neue organische Formen – für uns als Individuen und für den Dialog in der Gesellschaft – zu schaffen. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns auf der Suche nach neuen Möglichkeiten unseres Daseins.

 

Literaturnachweis:


Bachelard, Gaston (1949). La Psychanalyse du Feu. Paris: Gallimard.
Helmholtz, Hermann von (1913). Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik [3. Nachdruck der 6. Ausgabe, Hildesheim / Zürich: Georg Olms Verlag, 2000]. Braunschweig: Vieweg.
Novalis (1983). Schriften. Dritter Band. Das philosophische Werk II. Richard Samuel (Hrsg.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Peirce, Charles S. (1992). The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, 2 Bde, Nathan Houser / Christian Kloesel (Hrsg.). Bloomington / Indianapolis: Indiana University Press.
Tarasti, Eero (2001). Existential Semiotics. Bloomington / Indianapolis: Indiana University Press.
Tarasti, Eero (2002). Signs of Music. A Guide to Musical Semiotics. Berlin / New York: Mouton de Gruyter.

 

 


Allgemeine Beschreibung des Labors
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