Klangraum als intertextuelle Situation
Gedanken über die Uraufführung von
Klangraum-Installation
mit interaktiver Textprojektionam 12.07.2003 im Verlesesaal der Göttelborner
Mine
im Rahmen des Internationalen Interaktions-Labors
Paulo C. Chagas: Komposition, Klangraum-Installation
Arjen Keesmaat: Textprojektion, Interaktives Grafik-Design
Mark Henrickson: Interaktives Sound-Design
Camilla Turner: Performance, Video
Alan Smith: Video
Hartmut Dorschner: Saxofon
Heidi Dumreicher: Netzwerk-Kommunikation
Texte von Johannes Birringer, Kelli Dipple, Camille Turner und Novalis
Wenn man durch das Gelände der Göttelborner Grube spaziert
vor allem, wenn man die zahlreichen Gebäude betritt ist es kaum
zu vermeiden, dass man von der Vergangenheit eingeholt wird, und zwar von
jener Vergangenheit, die mit der jüngsten Geschichte des Bergwerks verbunden
ist. Das Göttelborner Bergwerk in seiner jetzigen Form besteht seit Ende
der 1880er Jahre; im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die Anlage modernisiert,
der hochragende neue Förderturm erst Mitte der 1990er Jahre errichtet.
Wenige Jahre später wurde ihr Betrieb eingestellt, so dass sich die Anlage
noch in einem relativ guten Zustand befindet.
Aber man wird in der Grube auch in seine eigene Vergangenheit versetzt. Die
imposante Architektur der Grubenanlage, die Mischung aus Verwaltungs- und
Produktionsräumen, riesigen Hallen, Maschinenparks, Transportwegen und
vor allem die Eingänge zur Tiefe der Erde die dicht gemacht worden
sind und dadurch noch mysteriöser wirken , alles, was wir betrachten,
ist Zeichen einer unmittelbaren Vergangenheit. Man fängt an, die Geschichte
der Grube zu rekonstruieren und dabei rekonstruiert man sich selbst.
Wir, die Teilnehmer des Interaktions-Labors, das von Johannes Birringer konzipiert
und geleitet worden ist, wurden für zwei Wochen in die stillgelegten
Landschaft der Göttelborner Grube versetzt. Wir sahen die Spuren der
Industriegesellschaft, und wir haben uns vorgenommen, Möglichkeiten der
Kunst, der interaktiven Medien und der mobilen Kommunikation in der Grube
zu erforschen. Im Hintergrund stand die Idee, neue Perspektiven auszuloten:
für die Grube als Produktionsort für welchen Zweck auch immer
und für uns selbst als Künstler.
Wir hatten die Gelegenheit, die leeren Räume des Bergwerks frei zu betreten
und wir haben uns vorgenommen, die Räume durch unsere künstlerische
Aktivität zu verändern. Unsere Visionen sollten in der Göttelborner
Grube projiziert werden.
Der Verlesesaal der Göttelborner Grube imponiert durch seine Größe.
Er ist hoch und viereckig. Im Erdgeschoss liegt der Raum, in den früher
die Kumpel kamen, um sich zu melden, wenn ihre Namen verlesen wurden. Danach
marschierten sie durch den langen Flur und gingen zu den Zechen. Im Verlesesaal
haben sich in der Vergangenheit, als die Mine noch im Betrieb war, Hunderte
von Männer versammelt. Dort hatte man die letzte Gelegenheit, sich von
der Luftsphäre zu verabschieden. Nachdem man seinen Namen gehört
hatte, ging man ins Innere der Erde.
Der Verlesesaal ist also die letzte Verbindung mit der Welt draußen"
dem Äußeren. In einer der vier Ecken ist er durch einen
zusätzlichen Raum erweitert, in dem sich durch die Dunkelheit
geschützt ein Sancta Barbara-Altar befindet. Barbara ist die Schutzheilige
der Bergarbeiter und der Altar ein buntes Mosaik an der Wand. Die zahlreichen
Schalter, die sich an zwei Seiten des Vierecks dicht nebeneinander befinden,
geben dem Verlesesaal den Eindruck von einem riesigen Amt, wie z.B. einem
Postamt der 70er Jahre. Aber die Gestaltung des Barbara-Altars erinnert an
Kirchenfenster, und dadurch verändert sich die Stimmung des Raums: Das
profane Amt wird sakralisiert.
Im Visionsraum, meinem Beitrag zum Interaktions-Labor, tauchen Visionen in
Form von Klang, Sprache, Bild, Video, Performance und Musik auf. Der Verlesesaal
der Göttelborner Mine wurde zum Erlebnisraum. Die Architektur des Raums
die viereckige Form und die hohe Decke bietet sich für
mehrkanalige Beschallung an. Die Lautsprecher wurden im zweiten Stock, wo
sich eine Galerie befindet, an die vier Ecken des Raums gestellt.
Die Komposition des Klangraums greift auf ein Repertoire von multi-lingualen
Sprachklängen und auch auf Klänge, die in der Göttelborner
Mine aufgenommen wurden, zurück. Die Klänge werden im Raum durch
die vier Lautsprecher-Kanäle verteilt. Die Mehrkanaligkeit erweitert
die akustische Wahrnehmung des Raums. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen
sind mit der Position und der Bewegung der Betrachter im Raum gekoppelt.
In der Mitte des Saals erlebt man eine Intertextuelle Polyphonie von leisen
Stimmen, Sprachklängen und Klängen aus der Grube, die den Verlesesaal
in einen schwebenden Zustand versetzt. In der Ecke dominieren einzelne Texte
und Klänge, und von dort betrachtet man die anderen akustischen Ereignisse
aus der Ferne. Bewegt man sich durch den Raum, dann setzen sich die Zwischenbereiche
und die Übergänge zwischen den Klangschichten durch.
Wir brauchen Visionen, um die Wahrnehmung von Zeit und Raum zu synchronisieren.
Visionen durchdringen die Zeit und den Raum wie feste Körper, die dadurch
flüssig werden: Durch Visionen wird das Dasein zum Kontinuum. Dass die
Existenz als ein Durchdringen von Zeit und Raum zu verstehen ist, wurde schon
von dem deutschen Dichter Novalis (1772-1801) angedeutet: Ein durchdrungener
Raum ist ein Zeitraum. Eine durchdrungene Zeit - eine Raumzeit (Novalis 1983).
Durch Visionen definieren wir also Positionen im Zeitraum und in der Raumzeit.
Wir konstruieren Einheiten wie z.B. Gesellschaft, Kultur, Kunst, Raum- und
Zeitproportionen, Gebäude, Werke, Intervalle, Interfaces usw. Wir existieren
also im Bezug auf solche Einheiten.
In Visionen polarisieren sich die Gegensätze, die uns helfen, unsere
Positionen im Zeitraum und in der Raumzeit zu definieren wie z.B. Vergangenheit
und Zukunft, Inneres und Äußeres, Reales und Virtuelles usw.
Visionen besitzen auch das Merkmal, sich ständig zu verändern. Man
bewegt sich zwischen den Positionen, d.h. durch die Visionen, die im Zeitraum
und in der Raumzeit bestimmt wurden. Man geht in die Zukunft und zurück
in die Vergangenheit, und dadurch wird die Gegenwart definiert. Man überquert
ständig die Grenze wie z.B. zwischen Innen und Außen, zwischen
realer und virtueller Wahrnehmung.
Betrachtet man Visionen als Zeichen, dann fragt man, wie sich Zeichen im Zeitraum
und in der Raumzeit verhalten. Zeichen können als Objekte, aber auch
als Bewegungen im Zeitraum und in der Raumzeit definiert werden. Die Bewegungen
sind fließend und hinterlassen Spuren. Noch einmal Novalis:
Zeit und Raum entstehen zugleich und sind also wohl eins, wie Subjekt und
Objekt. Raum ist beharrliche Zeit Zeit ist fließender, variabler
Raum Raum Basis alles Beharrlichen Zeit Basis
alles Veränderlichen. Der Raum ist das Schema die Zeit der Begriff
die Handlung (Genesis) dieses Schemas. (Allem Moment muss ich einen
Vor- und Nachmoment hinzudenken) (Novalis 1983).2 Arbeitsprozess
Das Konzept des Visionsraums ist während des zweiwöchigen Aufenthalts
im Interaktions-Labor (1.-14.07.2003) entstanden. In einem unserer Workshops
habe ich die Stichwörter Hunger", Gedächtnis" und
Erinnerung" als Anregung für eine Zusammenarbeit lanciert.
Ich hatte schon die Absicht, eine Komposition auf der Grundlage von Sprachklängen
zu entwickeln und brachte einige Klangmaterialien mit, die zu diesem Zweck
verwendet werden konnten, u. a. Aufnahmen von Texten von Novalis und von meiner
eigenen Stimme.
Johannes Birringer, Camille Turner und Kelli Dipple gingen auf meine Vorschläge
ein. Johannes und Camille schrieben dazu neue Texte, und Kelli trug mit einem
vorhandenen Text und mit Vokalimprovisationen bei. Johannes Text ist
durch Assoziationen mit der Mine, eigene Erinnerungen und Visionen geprägt.
Camille schrieb über ihren Vater und thematisierte dabei seine Arbeit
und die Beziehung zur Familie. In Kellis Text und Improvisationen werden Begriffe
wie Interface und Intervalle mit inneren Zuständen verknüpftet.
Johannes, Camille und Kelli haben ihre Texte selbst vor dem Mikrophon gelesen
und interpretiert. Ihre Stimmen wurden in einem Aufnahmestudio aufgenommen,
das in einem inneren" Raum der Schwarz-Weisskaue eingerichtet wurde.
Das Studio als Raum der akustischen Erfahrung und des akustischen Erlebnisses
hat sich als ein Ort für Begegnung und Zusammenarbeit entwickelt.
Mark Henrickson und ich gingen mehrmals durch die Mine, um Klänge aufzunehmen.
Wir haben die Klänge zusammen gehört und teilweise gemeinsam editiert.
Eine Auswahl dieser Klänge wurde in Visionsraum verwendet. Wir haben
auch das Konzept eines interaktiven Klangdesigns für Visionsraum entworfen,
das Mark mit Max/MSP zum großen Teil verwirklicht hat, das jedoch aus
Zeitgründen leider nicht in die Aufführung integriert wurde. Das
Konzept einer interaktiven Klangraumkomposition war sehr komplex, und Mark
war gleichzeitig mit anderen Projekten ziemlich beschäftigt.
Die interaktive Textprojektion von Visionsraum entwickelte sich aus einer
früheren Arbeit von Arjen Keesmaat, in der Aktionen vom Publikum durch
Bewegung von Buchstaben sichtbar werden. Die Worte aus den Texten von Johannes,
Camille, Kelli und Novalis tauchen auf dem Boden des Verlesesaals auf. Sie
werden von oben projiziert und sind nur sichtbar, wenn sich die Leute auf
der Projektionsfläche bewegen. Die Aktivität auf der Fläche
wird mit einer Infrarotkamera registriert und dient als Steuerparameter für
die Gestaltung des projizierten Texts. Die Buchstaben kommen aus der Nichts,
werden größer oder kleiner und bewegen sich kurvenartig in schnellen
oder langsamen Bewegungen der Geschwindigkeit der Schritte und entsprechend
der Anzahl der Menschen auf der Projektionsfläche.
Die Zusammenarbeit mit Camille führte zu der selbständigen Performance
Heiße Glut, die im Visionsraum integriert wurde. Die Idee der Performance
entwickelte sich aus unserem gemeinsamen Interesse an afro-amerikanischen
Religionen wie Candomblé (Brasilien), Santeria (Cuba, USA), Voudou
(Haiti) usw. Eins der Merkmale dieser Religionen ist der Synkretismus zwischen
ihren Göttern, die Orishas" genannt werden, und den christlichen
Heiligen. Die synkretistischen Assoziationen sind je nach Ort und Religion
unterschiedlich. So wird z. B. die heilige Barbara u. a. mit dem männlichen
Orisha Shango (der Gottheit von Feuer, Blitz und Gerechtigkeit) und der weiblichen
Orisha Yansan (der Gottheit von Wind und Sturm) in Verbindung gebracht.
Parallel zu der Arbeit am Visionsraum habe ich im Interaktions-Labor mit anderen
Künstlern in deren Projekten zusammengearbeitet. Dazu zählt vor
allem die Audiokomposition (Soundtracks) für vier Videos von Alain Smith
Outlook; Eingang Ausgang; Sicherheit beginnt im Kopf; Ordnung
ist Sicherheit , die er in der Mine gedreht und produziert hat. Die
Videos wurden im Verlesesaal gezeigt und optisch und akustisch ebenfalls im
Visionsraum integriert.
Ich habe auch Marija Stamenkovic geholfen, die Audiospur ihres Videos zu gestalten.
Das Video war ein Teil der Performance Do U C Me You, die sie in einem kleinen
Raum (Zeitmaster) der Schwarz-Weisskaue gezeigt hat.
Für die interaktive Performance von Marion Tränkle und Jim Ruxton
habe ich Samples von Marions Stimme aufgenommen und editiert. Die Sensoren,
die Jim zum Interaktions-Labor mitgebracht hat, bieten faszinierende Möglichkeiten
für die interaktive Komposition mit Bewegung und Raum. Ich hätte
gern mit Jim zusammengearbeitet und hatte einige Ideen dafür skizziert,
aber die Zeit war zu knapp.
Bei der Zusammenarbeit mit den verschiedenen Künstlern ist mir noch einmal
ein Gedanke deutlich geworden, der in meinem kompositorischen Schaffen eine
zentrale Rolle spielt: Die Notwendigkeit, die Klänge im Raum zu erfahren.
Manche Videokünstler z. B. arbeiten vor dem Bildschirm und konzentrieren
sich vor allem auf das, was sie vor den Augen haben. Sie hören die Klänge
meistens mit Kopfhörer oder aus kleinen Computerlautsprechern. Dadurch
spielt die räumliche Dimension des Klangs wie sich die Schallwellen
im Raum entwickeln nur eine Nebenrolle oder gar keine Rolle in der
visuellen Gestaltung.
Ich halte es für äußerst wichtig, das Bewusstsein auf die
integrierte Wahrnehmung von Klängen, Bildern und Bewegungen im Raum zu
lenken. Die Möglichkeiten der akustischen und optischen Synchronisation
und natürlich die Möglichkeiten ihrer Umkehrung: der De-Synchronisation
können nur sinnvoll erforscht werden, wenn der Raum als Parameter
in die intermediale Komposition einbezogen wird.
Die akustische Gestaltung von physischen Klangräumen und die Simulation
von virtuellen Klangräumen sind nur zwei Aspekte eines breiten Feldes,
dessen Potential durch die elektroakustische Musik und die audiovisuellen
Medien ans Licht gebracht wurde. Beim Entwerfen von Klangräumen zeigt
sich auch deutlich die Notwendigkeit des interdisziplinären Ansatzes,
wie z. B. der Zusammenarbeit zwischen Klangkünstlern, Designern und Ingenieuren.
Die Bezeichnung meines Beitrags zum Interaktions-Labor als Visionsraum
Klangraum-Installation hat eine symbolische Konnotation. Die Ästhetik
und der Entstehungsprozess sind typisch für meine Kompositionsweise in
weitestem Sinn. Ich arbeite gern mit unterschiedlichen Materialien, Medien
und Formen und versuche ständig, das Neue in die Tradition einzubinden.
Die Technologie steht nicht für sich selbst, sondern ist ein Instrument
unseres Daseins. Das Ritual das Ritualisieren von Erfahrungen und Prozessen
ist eine unentbehrliche Dimension meines Schaffens.
Wie bereits erwähnt, wurde die Idee einer Klangraum-Installation im Interaktions-Labor
geboren und durch die Zusammenarbeit mit den anderen Teilnehmern geprägt.
Neben dem Raum wurde die Sprache zum wichtigsten Medium der Installation.
Sie wird als akustisches Medium der Kommunikation zur musikalischen Form und
taucht als Schrift im Raum auf. Die visuelle Projektionsfläche auf dem
Boden dient gleichzeitig als Interaktions-Interface. Sie reagiert auf die
Bewegung des Beobachters, der die Möglichkeit haben sollte, Fragmente
von Sätzen und Wörtern interaktiv zu transformieren, sowohl visuell
als auch akustisch.
Die akustische Transformation der Klang-Samples ist also ein Bestandteil der
Komposition, obwohl sie in der Aufführung am 12.07.2003 nicht angeboten
werden konnte.
Die Kategorie der Firstness ist das Dasein. Der Raum wird im positiven Sinn
als physisches Phänomen wahrgenommen, ohne Referenz zu etwas anderem.
Die Klänge, die diese Schichten gestalten, stellen einen organischen
Prozess dar. Der Basisklang, von dem alle Klänge dieser Schicht abgeleitet
sind, ist ein von mir gesungener Laut [u] mit der Tonhöhe
F#2 (MIDI-Note 54, circa 185 Hz). Die ursprüngliche Dauer dieses [u]
circa zwölf Sekunden wurde durch Time-Stretching 48 Mal
ausgedehnt. Dadurch wurden sechs unterschiedliche Klänge generiert, die
jeweils eine Länge von circa zehn Minuten haben.
Die sechs Grundklänge unterscheiden sich durch die spektrale Auflösung
des FFT-Algorithmus, mit dem das Time-Stretching erzeugt wurde. Die Klänge
mit höheren Auflösungen werden als Konsonanz" und die
Klänge mit niedrigen Auflösungen als Dissonanz" empfunden,
wobei hier die Begriffe Konsonanz und Dissonanz nicht im herkömmlichen
Sinn von Zusammenklang, von Intervallen zwischen zweien oder mehreren Klängen,
sondern als unterschiedliche Auflösungen des Spektrums zu verstehen sind.
Eine hohe Auflösung erzeugt eine hohe Anzahl von Obertönen, und
dadurch wird das Spektrum als harmonisch" empfunden. Der Klang
ist sozusagen glatt". Bei niedrigen Auflösungen steigt die
Empfindung von Rauhigkeit", die das Phänomen der Dissonanz
charakterisiert.
Seit Helmholtz (1913) hängt die Empfindung von Rauhigkeit von den Schwebungen
zwischen den Obertönen komplexer Klänge ab. Aber hier wird Rauhigkeit
also die Empfindung von Konsonanz und Dissonanz im Sinn von
digitaler Zeitauflösung definiert. Und so wird ebenfalls das Konzept
von Harmonie umdefiniert: Die Harmonie eines Zusammenklangs kann nicht nur
durch Synchronisation von Obertönen, sondern durch die Synchronisation
von digitalen Zeitauflösungen entstehen.
Die sechs Klänge der Grundschicht bilden eine Skala von Konsonanz zu
Dissonanz also von hoher zu niedriger Auflösung , die hier
mit dem Buchstaben A, B, C, D, E, F gekennzeichnet wird. Bei der Verteilung
der Klänge im viereckigen Raum kommt es darauf an, eine räumliche
Balance zwischen Konsonanz und Dissonanz herzustellen. Bei jedem Grundklang
hört man einen mehr oder wenig periodischen Rhythmus, der von dem Time-Streching-Algorithmus
abhängig ist.
Der Rhythmus entspringt aus der Wahrnehmung der Zeitauflösung. Jeder
Rhythmus ist für sich nicht unbedingt interessant, aber die Interferenzen
zwischen den sechs Rhythmen erzeugen einen lebendigen Zusammenklang (Tonhöhe
F#2), wodurch der Klangraum zu schweben" scheint.
Die Verteilung der sechs Grundklänge der ersten Schicht im Klangraum
folgt zwei Ordnungsprinzipien (s. Abb. 1):
1) Eine Spirale von Konsonanz zu Dissonanz (oder umgekehrt) bildet sich im
Raum durch die Lautsprecher in den vier Ecken. Klang A wird auf Lautsprecher
1 platziert, Klang B auf Lautsprecher 2, Klang C auf Lautsprecher 3 und Klang
D auf Lautsprecher 4.
2) Die zwei Klänge mit den niedrigsten Auflösungen also die
dissonantesten Klänge werden auf zwei gegenüberliegenden
Seiten des Raums platziert: Klang E wird auf die Lautsprecher 2 und 3 verteilt
und Klang F auf die Lautsprecher 1 und 4. Die zwei anderen Seiten des Raums
die Seite zwischen den Lautsprechern 1 und 2 und die gegenüberliegende
Seite zwischen den Lautsprechern 3 und 4 bleiben sozusagen unbesetzt".
Abb. 1: Verteilung der sechs Grundklänge der Grundschicht 1
Die Kategorie der Secondness bezieht sich auf Objekte. Die Klänge dieser
Schicht haben ihren Ursprung in der Realität" draußen
und stellen Verbindungen zwischen dem inneren und dem äußeren Klangraum
dar.
Die Komposition dieser Schicht ist in Form von Loops und Kopplungen strukturiert.
Die Loops wurden aus Segmenten von sieben Klang-Familien gebildet:
Vier Familien von einzelnen Sätzen und manchmal einzelnen Wörtern
aus den vier Texten von Johannes, Kelli, Camille und Novalis.
Drei Familien von einzelnen Klängen aus drei anderen Klanggruppen: den
Sprachklängen von mir, den Vokalimprovisationen von Kelli und den Klängen
aus der Göttelborner Mine.
Beim Schnitt der einzelnen Segmente wurde darauf geachtet, dass die Loops
nahtlos wiederholt werden können, ohne das man den Schnitt merkt, und
dass die Segmente einer Familie nacheinander gehört werden können,
um jeweils eine Sequenz zu bilden, also einen fließenden"
Klang.
Tabelle 1 zeigt eine Übersicht der sieben Familien von Texten und anderen
Klängen und der Anzahl von Loop-Segmenten:
Klang-Familien - Anzahl der Loop-Segmente
Johannes Text 14
Kellis Text 16
Camilles Text 28
Novalis Text 47
Sprachklänge von Paulo 42
Vokalimprovisationen von Kelli 20
Klänge aus der Mine 56
Tabelle 1: Klanggruppen und Segmente
Durch Kopplungen entstehen feste Verbindungen zwischen den vier Texten und den drei anderen Klanggruppen: Der Text von Johannes wird mit den Sprachklängen von Paulo, der Text von Kelli mit ihren Vokalimprovisationen, und der Text von Novalis mit den Klängen aus der Mine gekoppelt. Der Text von Camille stellt eine Ausnahme dar: Er ist mit sich selbst, d.h. mit seiner eigenen Transformation, gekoppelt.
Jede der vier Kopplungen bildet eine formale Einheit, bei der ein Text mit
anderen Klängen konfrontiert wird. Im Fall von Camilles Text findet die
Konfrontation mit sich selbst statt. Die gekoppelten Klänge erfüllen
unterschiedliche semantische Funktionen für die Transformationen der
Texte: Ersatz, Erweiterung, Ergänzung, Schattierung, Kontrast, Verdopplung
usw.
Johannes Text ist durch persönliche, intime und geheimnisvolle
Aussagen gekennzeichnet. Die damit gekoppelten Sprachklänge von Paulo,
Dauertöne, Glissandi, Schreien, Flüstern usw. wurden 1990 im Studio
für Elektronische Musik des WDR aufgenommen und bis dahin noch nicht
verwendet. Sie stellen unterschiedliche Charaktere dar, erwecken vertraute
und unvertraute Stimmungen und Assoziationen.
In der Komposition des Klangraums werden die Sprachklänge von Paulo die
Atmosphäre von Johannes Text sowohl unterstützen als auch
widerlegen und verfremden.
Kellis Text handelt von Metaphern zwischen technologischen Begriffen wie Interfaces,
Intervallen usw. und inneren Erlebnissen. Die Vokalimprovisationen von Kelli
sind durch extreme und schnelle Wechsel und Zustände gekennzeichnet,
bedingt durch den Performance-Charakter. Die Stimme macht schnelle Sprünge
zwischen den tieferen und höheren Tonlagen.
Camilles Text bildet insofern eine Ausnahme, als er nur mit sich selbst, d.h.
mit seiner eigenen Transformation, korreliert. Ein Grund dafür (aber
nicht ausschließlich) ist die Tatsache, dass Camille in der Installation
als aktive Performerin auftritt. Die Kopplung von Camilles Text mit sich selbst
hat auch einen intertextuellen Charakter: Der Text kommentiert sich selbst
und wird von der Performance kommentiert.
Die Texte von Novalis (1772-1801) wurden von Kornelia Bittmann aufgenommen
und teilweise in meinem Hörspiel Der Blaue Raum (2001) verwendet. Es
sind Notizen und Fragmente von wissenschaftlichen und philosophischen Abhandlungen.
Sie behandeln Begriffe wie Raum, Zeit, Gefühle, Krankheiten, Mineralien,
Feuer, Menschen, Kunst, Physik, Krankheiten usw. Die poetische Sprache von
Novalis stellt eine Mannigfaltigkeit von Verbindungen zwischen Kunst, Wissenschaft,
Technik und Philosophie dar. Dies kann als visionäre frühere Form
des systemischen Denkens betrachtet werden.
Der französische Philosoph Gaston Bachelard (1884-1962) hat Novalis als
Dichter der Höhle bezeichnet. Seine Poesie bringt uns in die Tiefe der
Erde, lässt uns die innere Wärme spüren. Aus der mystischen
Dunkelheit funkeln die Worte wie Kristalle oder Edelsteine. Die Sprache Novalis,
der selber Geologe war, drückt vor allem die Sehnsucht nach der Bedeutung
aus. Der Text vibriert, verliert sich ins Unendliche; die Resonanz der Worte
enthüllt die Geheimnisse des Klanges.
Die Klänge aus der Mine wurden mit verschiedenen Objekten in unterschiedlichen
Räumen und mit unterschiedlichen Spielweisen produziert: durch Schlagen,
Streichen, Kratzen, Werfen, etc. Die Art und Weise, wie die Objekte gespielt
wurden, stellt schon musikalische Klänge und Strukturen dar.
Die Kategorie der Thirdness ist durch die Verbindung zwischen Objekten und
Zeichen gekennzeichnet. Diese Verbindung ist ein Ausdruck des Bewusstseins.
Die Klänge der dritten Schicht werden durch Transformationen der Klänge
der zweiten Schicht erzeugt. Die Transformationen sollen die spezifische Qualität
der Thirdness hervorbringen, nämlich das zukünftige Potential der
Secondness.
Die lineare Kausalität der Loop-Segmente, die sehr stark durch den narrativen"
Charakter der Texte (Johannes, Kelli, Camille und Novalis) und den illustrativen"
Charakter der gekoppelten Klänge (Klänge aus der Mine, Sprachklänge
und Vokalimprovisationen) geprägt ist, wird durch die digitale Manipulation
der Samples gesprengt. Bei den Effekten handelt es sich um Manipulationen
der spektralen Eigenschaften der Klänge wie z.B. Filter, Resonanz-Filter,
Pitch-Shift, Delay, usw oder Klangsynthese-Techniken wie z.B. Granularsynthese.
Die Prozesse der Transformationen wurden mit Max/MSP und VST-Plugins programmiert.
Sie haben die Funktion, das Spiel in den Klangraum zu bringen. Diese spielerische
Funktion bestimmt das interaktive Klangdesign.
Das Konzept von Visionsraum sieht ein interaktives Spiel zwischen der Textprojektion
auf dem Boden und den Klangtransformationen im Klangraum vor. Die Sätze
oder Wörter sollen gleichzeitig akustisch (als Loop-Segmente) und visuell
(als Buchstaben) transformiert werden. Die Spielstrategien wie z.B. die Auswahl
der Loop-Segmente und der Klangdesign-Algorithmen bestimmen also die Komposition
der dritten Schicht.
Die interaktiven Klangtransformationen der dritten Schicht erzeugen auch Bewegung
im Klangraum. Die Loop-Segmente der zweiten Schicht sind auf die vier Lautsprecher
in den Ecken platziert; sie besetzen sozusagen feste Positionen. Aber sobald
ein Loop-Segment transformiert wird, verlässt es seinen ursprünglichen
Ort und wandert im Raum: Es geht z. B. zu einer anderen Ecke oder zu einer
Seite hin. Die Art und Weise, wie sich die transformierten Klänge im
Klangraum bewegen, ist gleichfalls Teil der Spielstrategie.
In der Uraufführung von Visionsraum am 12.07.2003 im Verlesesaal der
Göttelborner Mine wurde die Schicht 3 nicht präsentiert (Grund s.o.).
Abb. 2 zeigt die Organisation der Schichten 1 und 2 im Klangraum. Es gibt
vier Paare, die aus Loop-Segmenten und gekoppelten Effekt-Klängen bestehen.
Jedes Paar ist auf eine Ecke des Klangraums lokalisiert und bewegt sich von
dort aus zu den anderen Lautsprechern, wenn die Klange transformiert werden.
Abb. 2: Verteilung der Klänge der Schichten 1 und 2
Betrachtet man Visionsraum aus der Perspektive der existentiellen Semiotik
(Tarasti 2002) dann kann man hier von einem Werk sprechen, das sich als Situation"
für Interdisziplinarität versteht. Eine Situation ist eine gewisse
Partikularität, eine Mischung von Seins-Formen in realen und virtuellen
Kontexten. Der interdisziplinäre Charakter von Visionsraum bezieht sich
einerseits auf die Art und Weise, wie das Konzept im Interaktions-Labor entstanden
ist, und andererseits auf die Tatsache, dass der Klangraum Möglichkeiten
für die integrative Entwicklung anderer Aktionen und Events bietet.
Der Begriff der Interdisziplinarität bezeichnet nicht nur die Kombination
verschiedener Kunstformen in einem Werk, wie z. B. die Kombination von Musik
mit Theater in der Oper, von Musik mit beweglichen Bildern im Film oder die
neue Gattung Musikvideo. Mit Interdisziplinarität wird hier vielmehr
eine intertextuelle Situation bezeichnet, in der die bestehenden Elemente,
Aktionen, Events usw. aus der Perspektive der anderen Elemente, die sich in
der selben Situation befinden, verstanden werden sollen. Die interdisziplinäre
Situation erfordert ein ständiges Recycling der Materialen und der Wahrnehmungen
im intertextuellen Raum. Die Referenzen sind nicht linear, sondern synchron
im existentiellen Sinn: Der Beobachter der Zuschauer, der Performer,
der Komponist, der Designer usw. muss mit der existentiellen Situation
des Klangraums synchronisiert" sein, um eine Verbindung mit den
intertextuellen Ereignissen herzustellen.
Die Sprache spielt in Visionsraum eine Rolle als Bindeglied zwischen den verschiedenen
interdisziplinären Ebenen. Man kann diese Rolle unter drei Aspekten betrachten.
Erstens: Die Sprache vermittelt das Modell der narrativen Aktion: Das ist
die Situation des Textes. Beim Betreten des Klangraums achtet man zuerst auf
die Erzählung von Geschichten d.h. auf die Texte, die linear gesprochen
werden. Im narrativen Modell gibt es gleichzeitig die Situation des Erzählers
(er sendet eine Botschaft) und die Situation des Hörers (er horcht auf
die Botschaft).
Zweitens: Die Sprache wird mit dem Raum identifiziert und zwar, wenn die Sprachklänge
als Teil einer aktiven musikalischen Situation wahrgenommen werden. Man achtet
auf die Aktionen, durch die Texte und andere Klänge als Akteure und Events
interpretiert werden. Events bedeuten immer eine Veränderung, und hier
findet eine Veränderung des Klangraums durch die mehrkanalige Komposition
statt. Die Verteilung der Klänge im Raum fordert den Zuhörer auf,
sich im Raum zu bewegen, um die Individualität der Akteure und Events
zu identifizieren. Beim Prozess der Identifikation wird die Situation des
Raums transzendiert: Der physische Raum wird abstrahiert und wird durch die
möglichen Visionen des Beobachters (des Zuhörers) rekonstruiert.
Drittens: Die Sprache taucht als Intertextualität auf. Der erste intertextuelle
Bezug besteht in der Möglichkeit, die einzelnen Texte durch die anderen
zu interpretieren. Die Bedeutung jedes Texts wird innerhalb des mehrkanaligen
Klangraums definiert, wobei die intertextuellen Referenzen nicht primär
durch die Semantik der Texte, sondern vor allem durch die musikalische Gestaltung
des Klangraums konstruiert werden. Ein weiterer und noch deutlicherer intertextueller
Bezug wird durch die Beziehung zwischen den gesprochenen Texten und den Buchstaben,
die auf dem Boden projiziert sind, hergestellt. Der intertextuelle Kontext
dieser Verbindung wird durch die Interaktivität" erweitert.
Die Idee der Interaktivität bedeutet, im Visionsraum einen Kontext von
Referenzen zu schaffen, damit der Raumbeobachter sich aktiv an der Gestaltung
und Transformation beteiligen kann. Die Interaktivität bedeutet auch
die Möglichkeit, den unsichtbaren technologischen Raum durch den physischen
Körper zu artikulieren und dadurch sichtbar zu machen.
Der erste Schritt dafür ist die interaktive Textprojektion von Arjen
Keesmaat. Die Projektionsfläche auf dem Boden befindet sich nicht in
der Mitte, sondern an einer Seite des Raums. Der Beobachter betritt die Projektionsfläche
und muss ungewöhnliche Bewegungen mit seinem Körper produzieren
schnell gehen, rennen, springen, die Arme bewegen usw. , um das
interaktive Verhalten der Buchstaben zu aktivieren. Bei der Bewegung verändert
sich auch die akustische Wahrnehmung: Wenn man steht, hört man anders,
als wenn man durch den Raum spaziert.
Eine noch explizitere Ebene der Interaktivität ist das geplante und bei
der Uraufführung nicht realisierte interaktive Sound-Design (Mark Henrickson).
Dadurch werden die aktiven Bewegungen der Beobachter nicht nur sichtbar",
sondern auch hörbar". Der Beobachter wird zum Akteur in einer
Welt von gegenseitigen Referenzen, in dem grafische Zeichen durch Klänge
interpretiert werden können und umgekehrt. Grafik-Design und Sound-Design
sind zwei Aspekte des virtuellen interdisziplinären Raums der Installation.
Für ihre Performance Heisse Glut gestaltet Camille Turner mit Kerzenlicht,
Objekten aus der Mine und anderen Gegenständen einen Raum im Klangraum.
Heisse Glut aktiviert einerseits intertextuelle Referenzen zu der Geschichte
der Göttelborner Mine und ihrer sozialen und kulturellen Umgebung. Andererseits
stellt die Performance durch den Synkretismus zwischen christlichen und afro-amerikanischen
Religionssymbolen intertextuelle Verbindungen zwischen profaner und sakraler
Welt dar.
Der Performanceraum in der Mitte des Raums wirkt wie ein Altar, und Camille
koordiniert ihre Aktion mit dem Klangraum und der Projektion ihrer Videos.
Während der Performance werden die interaktiven Buchstaben ausgeschaltet;
stattdessen erscheinen Camilles Videos auf der Projektionsfläche auf
dem Boden. Der Zuschauer wird in die Situation einer religiösen Zeremonie
oder eines Kults versetzt. Die Performance endet mit einem Lied zu Ehren der
heiligen Barbara, gesungen vom Gustav-Weber-Chor, einem Männergesangverein
aus der benachbarten Gemeinde Quierschied. Die Anwesenheit des Chors während
der ganzen Performance betont den soziokulturellen Kontext der Klangraum-Installation.
Durch die Verbindung zwischen der typisch deutschen Tradition des Männergesangvereins
und der prospektiven Welt der digitalen Apparate wird eine Kontinuität
zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hergestellt. In Anlehnung an die
Gedanken von Novalis (s.o.) könnte man sagen: Der Chor im Klangraum stellt
eine Vision dar, die die Zeit und den Raum durchdringt. Oder nach der
Semiotik von Peirce: Das Barbara-Lied stellt eine symbolische Relation von
Thirdness dar, die eine Ordnung" im Chaos" des Klangraums
schafft und uns bei der Orientierung in Richtung Zukunft hilft.
In der Uraufführung von Visionsraum am 12.07.2003 im Verlesesaal der
Göttelborner Mine wurden auch zwei andere Ereignisse integriert: Zuerst
(zeitlich gesehen) fand die Solosaxofon-Improvisation von Hartmut Dorschner
statt und danach die Projektion von sechs Videos von Alan Smith.
Hartmuts Improvisation mit dem Sopransaxofon war eine reine akustische musikalische
Darbietung. Er spielte ohne Verstärkung, bewegte sich durch den Raum
und benutzte den Klangraum als eine Art Klangkulisse für die langen,
weit gezogenen Melodien seines Saxofonspiels.
Die sechs Videos von Alan Smith wurden auf einer Leinwand an der Seite des
Raums gegenüber der interaktiven Projektionsfläche projiziert. Die
Videos stehen als Zeichen für Alans Auseinandersetzung mit der Göttelborner
Mine in den zwei Wochen Aufenthalt im Interaktions-Labor. Die Realität
der Mine erscheint in den Videos durch den Schein eines inszenierten Alltags.
Alan selbst agiert als Figur in verschiedenen Situationen in den Videos, z.B.
als Bergarbeiter unter dem Schild Sicherheit beginnt in Kopf",
als ein vermeintlicher glücklicher Mann, der für sich ein Haus in
einem Schrottcontainer baut.
Die Audiospuren der Videos wurden im Klangraum wiedergegeben und teilweise
mit den Klängen der Installation gleichzeitig gehört. Diese Mischung
war u. a. möglich durch die Tatsache, dass die Soundtracks der Videos
vorwiegend aus Aufnahmen in der Mine bestehen. Bei vier der sechs Videos waren
die Soundtracks in Zusammenarbeit von Alan und mir gestaltet.
Die Wissenschaftlerin Heidi Dumreicher, Spezialistin in Nachhaltiger Entwicklung
plante eine Aktion mit dem Publikum. Ziel dieser Aktion war, die Möglichkeiten
der mobilen Netzwerk-Kommunikation zur erforschen, um während der Aufführung
eine Art Feedback im Visionsraum zu kreieren. Dafür sollten die von Renn
Scott mitgebrachten mobilen Geräte vom Typ BlackBerry (Handheld Computers)
verwendet werden. Einige Zuschauer sollten aufgefordert werden, schriftliche
Messages per E-mail in den Visionsraum zu schicken. Inhalt dieser Botschaften
könnten z. B. Kommentare über die Texte oder das Gesehene sein.
Und der Witz dabei wäre gewesen, dass die Schriften dieser Messages zeitweise
anstelle der Buchstaben auf der Projektionsfläche erscheinen sollten.
Die Gedanken der Zuschauer würden sozusagen als grafische Projektion
erscheinen.
Diese Aktion war zu kurzfristig geplant (Renn und Heidi kamen erst in der
zweiten Woche des Interaktions-Labors an), um den technischen Aufwand in der
knappen Zeit, die für die Realisierung der Aufführung zur Verfügung
stand, zu bewältigten. Die Einspielung des Publikum-Feedbacks erweitert
die interdisziplinäre Situation des Klangraums: Nunmehr kommen die Texte
nicht nur von innen, sondern sie werden auch von den Texten, die außerhalb
des Aufführungsraums kommen, kommentiert. Die mobile Kommunikation schafft
einen zusätzlichen (virtuellen) Raum für den Austausch zwischen
den Beobachtern und Akteuren des Klangraums. Das Feedback der Beobachter wird
in die Situation integriert und reflektiert ihre Wirkung nach außen".
Diese Idee bleibt als Vorschlag für die zukünftigen Aufführungen
von Visionsraum.
Visionsraum verdankt seine Entstehung einer glücklichen Konvergenz von
Situationen und Begegnungen. Der Anstoß gab die Idee von Johannes Birringer,
ein Interaktions-Labor in der stillgelegten Mine von Göttelborn in der
Nähe von Saarbrücken einzurichten. Das Projekt des Interaktions-Labors
beschäftigt sich mit der Frage des Recyclings der Mine als Existenz-Ort.
Die existentielle Frage bezieht sich vor allem auf wirtschaftliche Perspektiven.
Man hofft, durch technologische Innovationen neue Arbeitsfelder und Arbeitsplätze
zu schaffen.
Im Interaktions-Labor wurden Modelle der interdisziplinären Arbeit erprobt.
Das Ergebnis der zwei Wochen, in der die Teilnehmer des Interaktions-Labor
auf dem Minen-Gelände intensiv zusammengearbeitet haben, sind u. a. die
Werke", die während des langen Performance-Abends am 12.07.2003
gezeigt wurden.
Visionsraum ist auch ein solches interdisziplinäres Modell. Seine Grundlage
ist der Gedanke des Klangraums aus der Sicht der elektroakustischen Musik.
Der Klangraum Visionsraum wurde in einem Gebäude der Göttelborner
Mine dem Verlesesaal für die Zeit der Aufführung eingerichtet.
Die Komposition des Klangraums beschäftigt sich nicht nur mit akustischen,
sondern auch mit existentiellen Elementen. Einige Teilnehmer des Interaktions-Labors
wirken als Akteure bei der Gestaltung des Klangraums: Sie sprechen selbst
ihre Texte, die sich als Klang-Segmente in Klangraum bewegen.
Eine zweite Dimension des Klangraums ist das interaktive Design. Die Texte,
die im Klangraum verteilt sind, tauchen als interaktive Projektion von Schrift
auf dem Boden auf. Die Sprachklänge sollen ebenfalls durch interaktives
Sound-Design transformiert werden. Das interaktive Grafik-Design von Arjen
Keesmaat und das interaktive Sound-Design von Mark Henrickson verdeutlichen
die intertextuelle Situation des Klangraums. Die interdisziplinären Ebenen,
die ins Spiel gebracht werden, kommentieren und erklären sich gegenseitig.
Für das Beobachten stellt sich die Frage der Synchronisierung mit dem
Klangraum als physische und künstlerische Erfahrung und mit den Aktionen
und Events, die im Klangraum stattfinden. Das ist die dritte Dimension des
Konzepts von Visionsraum. Der Klangraum soll als existentielle Erfahrung erlebt
werden. Dies erfordert eine Integration der Umwelt, der Mine, in das Projekt.
Die Aufführung von Visionsraum zeigt die Suche nach den Kanälen
der Kommunikation mit dem Ort, den Menschen und der Geschichte der Mine.
Das Projekt des Interaktions-Labors gibt schon den Anstoß zum systemischen
Denken, indem seine Existenz mit dem Weiterbestehen der Mine als symbolischer
Raum verknüpft ist. Visionsraum verfolgt auch den systemischen Ansatz
und setzt Zeichen für die Verbindung zwischen den verschiedenen Systemen",
die gleichzeitig in Bezug auf die Mine existieren. So ist z. B. die Mitwirkung
des einheimischen Männerchors in der Performance Heisse Glut von Camille
Turner als Zeichen einer Situation zu verstehen, deren Transzendenz als Verbindung
zwischen verschiedenen historischen und religiösen Traditionen auftaucht.
Die Verbindung zwischen Religion, Kunst, Wissenschaft und Technologie (Novalis)
und die pluralistische Existenz unterschiedlicher historischer Phasen in einer
gleichen Gesellschaft sind wichtige Aspekte der intertextuellen Situation
von Visionsraum. Das Werk versteht sich als Zeichen der Transition zwischen
der Situation der industriellen Gesellschaft und der heutigen Situationen
ihres Recyclings. Die Apparate der Informations- und Kommunikationstechnologie
sollen uns dabei helfen, neue organische Formen für uns als Individuen
und für den Dialog in der Gesellschaft zu schaffen. In diesem
Spannungsfeld bewegen wir uns auf der Suche nach neuen Möglichkeiten
unseres Daseins.
Bachelard, Gaston (1949). La Psychanalyse du Feu. Paris: Gallimard.
Helmholtz, Hermann von (1913). Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische
Grundlage für die Theorie der Musik [3. Nachdruck der 6. Ausgabe, Hildesheim
/ Zürich: Georg Olms Verlag, 2000]. Braunschweig: Vieweg.
Novalis (1983). Schriften. Dritter Band. Das philosophische Werk II. Richard
Samuel (Hrsg.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Peirce, Charles S. (1992). The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings,
2 Bde, Nathan Houser / Christian Kloesel (Hrsg.). Bloomington / Indianapolis:
Indiana University Press.
Tarasti, Eero (2001). Existential Semiotics. Bloomington / Indianapolis: Indiana
University Press.
Tarasti, Eero (2002). Signs of Music. A Guide to Musical Semiotics. Berlin
/ New York: Mouton de Gruyter.
Allgemeine Beschreibung des Labors
(english)
(español)
(francais)